Cocktails fuer drei
Candice saßen, fingen an, »Why are we waiting« zu singen, und die Frau ihr gegenüber versuchte, ihren Blick aufzufangen, und schnalzte missbilligend mit der Zunge. Doch Candice sah sie nicht. Blindlings starrte sie ihr dunkles Spiegelbild in der Scheibe gegenüber an, während schmerzliche Erinnerungen an ihren Vater wach wurden, die sie schon vor Jahren begraben hatte.
Good-Time Gordon, groß und gutaussehend, immer im makellosen blauen Blazer mit goldenen Knöpfen. Immer freigiebig, immer mit jedermann gut Freund. Er war ein Charmeur gewesen, mit leuchtend blauen Augen und festem Händedruck. Jeder bewunderte ihn. Ihre Freunde fanden, sie hätte Glück, so einen Vater zu haben – einen Dad, der sie in den Pub gehen ließ, der ihr schicke Sachen kaufte, der Reiseprospekte auf den Tisch warf und sagte: »Du entscheidest«, und es auch so meinte. Sie hatten das Leben in vollen Zügen genossen. Partys, Urlaube, Ausflüge, und immer stand ihr Vater im Mittelpunkt des Vergnügens.
Dann war er gestorben, und der Horror begann. Inzwischen konnte Candice nicht mehr an ihn denken, ohne dass sie sich schlecht fühlte, erniedrigt, fiebrig vor Scham. Er hatte alle hintergangen. Hatte die Welt zum Narren gehalten. Jedes Wort, das er je von sich gegeben hatte, klang mittlerweile falsch. Hatte er sie wirklich geliebt? Hatte er ihre Mutter wirklich geliebt? Sein ganzes Leben war eine Scharade gewesen – warum also nicht auch seine Gefühle?
Heiße Tränen traten in ihre Augen, und sie holte tief Luft. Normalerweise verdrängte sie jeden Gedanken an ihren Vater. Für sie war er tot und begraben, nicht mehr Teil ihres Lebens. Mitten in jenen schrecklichen Tagen des Schmerzes und der Fassungslosigkeit war sie in einen Friseursalon spaziert und hatte sich ihre langen Haare abschneiden lassen. Als die Büschel auf den Boden fielen, schien es ihr, als kappte sie damit in gewisser Weise die Verbindung zu ihrem Vater.
Doch so einfach war es natürlich nicht. Sie war noch immer ihres Vaters Tochter. Sie trug noch immer seinen Namen. Und sie war noch immer die Nutznießerin seiner dunklen Machenschaften. Mit dem Geld anderer Leute hatte er für ihre Kleider, ihre Reisen in den Wintersport und das kleine Auto bezahlt, das sie zum siebzehnten Geburtstag bekommen hatte. Das teure Jahr vor der Universität – Kunstgeschichte in Florenz, gefolgt von einer Wandertour in Nepal. Er hatte das hart verdiente Geld anderer Leute verschleudert, damit sie sich vergnügen konnte. Bei dem Gedanken daran wurde ihr ganz schlecht vor Wut, vor Selbstverachtung. Aber woher hätte sie es wissen sollen? Sie war noch ein Kind gewesen. Und ihr Vater hatte alle Welt getäuscht. Bis zu seinem Autounfall, mitten in ihrem ersten Jahr an der Uni. Seinem plötzlichen, schrecklichen, unerwarteten Tod.
Candice spürte, wie ihr Gesicht ganz heiß wurde, und sie krallte sich ans Plastik ihrer Armlehne, als der Zug ruckend wieder anfuhr. Trotz allem trauerte sie um ihren Vater. Doch trauerte sie nicht nur um ihn, sondern auch um ihre Unschuld, ihre Kindheit. Sie trauerte um die Zeit, als das Leben noch einen Sinn gehabt, als sie nur Liebe und Stolz für ihren Vater empfunden hatte. Die Zeit, als sie hoch erhobenen Hauptes durch die Welt gelaufen war, stolz auf ihren Namen und ihre Familie. Bevor sich alles abrupt verfinstert hatte und in Unaufrichtigkeit versunken war.
Nach seinem Tod war nicht annähernd genug Geld da, um alle auszuzahlen. Die meisten Leute hatten es irgendwann aufgegeben. Einige wenige zogen gegen ihre Mutter vor Gericht. Es hatte Jahre gedauert, bis endlich alles geklärt war und niemand mehr Forderungen erhob. Doch der Schmerz wollte nicht nachlassen. Der Schaden ließ sich nicht wirklich reparieren. Die Konsequenzen, die er für das Leben der Leute hatte, waren nicht so leicht aus der Welt zu schaffen.
Candice’ Mutter Diana war nach Devon gezogen, wo noch nie jemand von Gordon Brewin gehört hatte. Heute lebte sie in einem Zustand trotziger Leugnung. Wenn man sie fragte, war sie mit einem liebevollen Ehrenmann verheiratet gewesen, der nach seinem Tod durch bösartige Gerüchte verleumdet worden war – und das war es dann. Sie gestattete sich keine ehrlichen Erinnerungen an die Vergangenheit, fühlte sich nicht schuldig, empfand keinen Schmerz.
Wenn Candice versuchte, das Thema auf ihren Vater zu lenken, weigerte sich Diana, ihr zuzuhören oder auch nur darüber zu reden. Einige Jahre nach ihrem Umzug nach Devon lernte sie einen
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