Coco Chanel & Igor Strawinsky
zu, wie um ihn herum der Regen fällt.
Nach dem Wolkenbruch drängt das Licht wieder durch die Blätter. Die Erde öffnet sich, und er riecht den berauschenden Duft des Flieders. Er fühlt sich gesalbt, gesegnet, als sei er vom Himmel auserwählt. Und während die Nässe durch seine Kleider dringt, spürt er, wie seine natürliche Zurückhaltung schwindet. Er schreitet schwungvoller aus, beginnt sogar zu laufen. Noch nie war die Luft so frisch, noch nie hat er sich so frei gefühlt. Er hebt den Kopf, um so tief wie möglich einzuatmen.
Dann wird ihm plötzlich bewusst, wie spät es geworden ist, und er hastet zur Métro. Von neuer Energie durchdrungen, bleibt er während der gesamten Fahrt stehen. Als er wieder ins Licht hinaustritt, erscheint ihm die Stadt wie frisch gestrichen. Die nassen Geländer blitzen und glänzen in der Sonne, und die Straßenbahnschienen funkeln wie die Fäden eines riesigen Netzes. Er rennt nach Hause, erst kurz vor der Tür des Hotels hält er inne.
Er muss einen Moment nachdenken, ehe er hineinstürzt und seiner Frau die wunderbare Neuigkeit überbringt.
Kapitel 5
DREI WOCHEN SPÄTER. Es ist der erste Samstag im Juni und der heißeste Tag des Jahres bisher.
Cocos Villa Bel Respiro liegt mitten im waldreichen Gebiet westlich von Paris. Eine Vielzahl von Bäumen spenden dem Haus Schatten: Ulmen und Buchen, Apfel- und Kirschbäume und auch ein Pflaumenbaum, der jedes Jahr saftige, zuckersüße gelbe Früchte trägt. Der Garten ist mit einer Vielzahl bunter Blumen gesprenkelt, deren Duft mit dem der blühenden Sträucher wetteifert. Schwarz lackierte Fensterläden stechen aus dem cremeweißen Stuck der Villa hervor. Das ausgebleichte graue Dach lässt das Haus noch blasser wirken.
Auf der Straße wird Motorengeräusch hörbar. Es schwillt an, bis es plötzlich vom Knirschen zur Seite spritzenden Kieses übertönt wird, als ein Lieferwagen langsam die Auffahrt heraufrollt. Zwei große Schäferhunde fangen an zu bellen, und sofort stimmen fünf Welpen ein. Sie schnappen nach dem Fahrzeug, als es vor dem Haus anhält.
»He da! Ruhe jetzt!«, ruft Coco. Die Hunde sind beeindruckend gut erzogen und gehorchen sofort.
Zuerst springen die Kinder heraus. Sie sind unruhig nach der Fahrt und können es kaum erwarten, das neue Haus zu sehen. Dann steigt Igor aus und hilft anschließend seiner Frau aus dem Wagen.
Zum Schutz vor der Sonne trägt sie einen breitkrempigen weißen Hut, und es dauert eine ganze Weile, ehe sie aufschaut.
Als sie es schließlich tut, fällt Coco als Erstes auf, dass Jekaterina keine schöne Frau ist. Ihre Züge haben etwas beinahe Männliches, und ihre Lippen wirken verkniffen. Der kantige Kiefer verleiht ihr ein schroffes, ungraziöses Aussehen. Ihre Arme und Beine sind lang und schlaksig, und zu ihrer Überraschung sieht Coco, dass Jekaterina mehrere Zentimeter größer ist als ihr Mann. Einen Moment lang fühlt sich Coco außerordentlich feminin. Ohne ihr Zutun schleicht sich etwas Kokettes in ihre Bewegungen. »Es freut mich sehr, Sie endlich kennenzulernen«, sagt sie.
Die beiden Frauen schütteln einander mit kräftigem, abschätzendem Griff die Hand. Coco bemerkt, dass Jekaterinas Finger glühen. Und obwohl ihre eigene kleine Hand in Jekaterinas Griff verschwindet, ist sie diejenige, die ungleich fester zupackt. Sie spürt eine verborgene innere Stärke, die sie Jekaterina mitteilen will.
Diese hingegen ist beunruhigt von Cocos Attraktivität. Ihre Gastgeberin ist nicht nur reich, sie ist auch noch schön. Sie kämpft eine instinktive Verachtung für diese Frau nieder, die sich aus einfachsten Verhältnissen hochgearbeitet hat. Außerdem empfindet sie einen Widerspruch zwischen Cocos zierlicher Gestalt und den gewaltigen Ausmaßen ihres Hauses. Es wirkt plump und prahlerisch. Ein aufgeblähter Prachtbau.
Obwohl sie zugeben muss, dass die Villa und der Garten insgesamt einen geschmackvollen, zurückhaltenden Eindruck vermitteln, fühlt sie sich vom ersten Augenblick an unwohl. Sie mag die düsteren Fensterläden nicht. Schwarz! Um ein Haar wäre sie zurückgeschreckt. Und der Rasen wirkt so gleichförmig wie der Bezug eines Billardtischs. Welch ein Unterschied zu dem üppig wuchernden Grün rings um ihr russisches Zuhause, das sie so vermisst. Es war lebendig, dicht,
man konnte es anfassen. Verglichen damit erscheint ihr dieser Garten hier künstlich und seelenlos.
Aber da ist noch etwas anderes, das vom Haus ausgeht. Und plötzlich wird es ihr klar: Es wirkt
Weitere Kostenlose Bücher