Cocoon, Band 01
keine andere. »U nd wenn sie herausfinden, dass wir …«
»Dass wir beide uns treffen?«, vollendet er leise meinen Satz, als ich ins Stocken gerate. »Ich bin nicht von Bedeutung.«
»Doch, das bist du«, sage ich. »Sie können mich sonst nicht kontrollieren.«
»Sie haben deine Schwester.«
»Aber sie haben nicht mein Herz.«
Das ist es also. Nie zuvor haben wir darüber geredet, was zwischen uns ist.
»Ich darf dich nicht auch noch verlieren«, sagt er leise.
»Das wirst du nicht.«
»Für mich ist es schon ein Risiko, hierherzukommen«, sagt er, steht auf und läuft in der goldenen Kuppel auf und ab.
»Sie wissen nicht, dass ich dazu in der Lage bin.«
»Noch nicht.«
»Ich weiß.« Mit einem Seufzen erhebe auch ich mich. Wir nähern uns gefährlich dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, und ich bin mir nicht sicher, ob ich es ohne ihn schaffe, jetzt, wo Enora so anders ist. »Wir brauchen einen Plan, aber erst müssen wir etwas herausfinden.«
Er zieht eine Augenbraue hoch.
»Was mit Enora geschehen ist«, erinnere ich ihn.
Ich weiß nicht, wo ihr Quartier ist, aber Jost weiß es. Ich nehme die Kuppel auseinander und flechte die Zeitfäden wieder an ihren alten Platz im Gewebe meines Zimmers zurück. Außerhalb des Schutzes unserer Zeitblase fordern wir zwar unser Glück heraus, aber er führt mich aus meinem Zimmer, zwei steinerne Treppenabsätze nach oben und auf Enoras Korridor.
»Den Aufzug überwachen sie gründlicher als das Treppenhaus«, erklärt er mir, während wir die Stufen erklimmen. »Das benutzt schließlich keiner.«
Enoras Korridor ähnelt meinem, aber die Türen sind nicht pflaumenblau, sondern violett gestrichen. Jost klopft an der ersten und wartet, aber es kommt keine Antwort.
»Bist du dir sicher?«, fragt er.
Ich nicke. Ich werde heute Nacht nicht schlafen können, bevor ich nicht mit ihr gesprochen habe.
Jost hält seinen Daumen vor den Scanner, und die Tür öffnet sich klickend und gibt den Blick in ein ruhiges Zimmer frei. Überall hängen große, in Gold gerahmte Bilder an den Wänden. Von hier wirken die Bilder wie Blumen, doch als ich näher trete, verschwimmen die Formen zu einem Wirrwarr aus dezenten Farben und verlieren ihre Schönheit. Neben dem erkalteten Kamin steht ein Himmelbett. Das Betttuch darauf ist straff gezogen, und alle Kissen liegen akkurat an ihrem Platz. Das Zimmer wirkt verlassen.
»Sie ist nicht hier«, sagt Jost vom Fenster her.
Ein ungutes Gefühl breitet sich in meiner Kehle aus, aber ich schlucke es herunter. Sie können sie unmöglich einfach so beseitigt haben. »Lass uns im Bad nachsehen.«
Er folgt mir wortlos. Ihr Badezimmer ist kleiner als meines, und ohne Licht vermag ich außer dem weißen Plastikstuhl – es ist derselbe wie in meinem Bad – , der uns beim Betreten blass entgegenschimmert, kaum etwas zu erkennen.
»Ich weiß nicht, wo sie ist«, sagt Jost. »Von meinem Büro aus kann ich mit dem Ortungsgerät nach ihr suchen.«
»Warte«, hauche ich, als mir das Tropfen des Wasserhahns auffällt. Im Dunkeln strecke ich die Hand aus und taste nach dem Scanschalter. Als ich mit den Fingern darüberfahre, wird das beengte Zimmer von Licht durchflutet, und ich muss blinzeln.
Josts Augen gewöhnen sich schneller daran. »Verdammt!«
Ich sehe ihn über den Marmorboden hasten, doch ich bringe es nicht über mich, in die Richtung zu blicken, in die er eilt. Ich höre den Schrecken in seiner Stimme und möchte nicht sehen, was er sieht. Wenn ich mich jetzt umdrehe, zurück ins friedliche Schlafzimmer gehe und auf den leeren Korridor hinaustrete, werde ich es nie erfahren.
Doch dann zieht er sie in die Höhe, und es ist zu spät.
Wasser schwappt über den Rand der Wanne und hinterlässt rote Schlieren auf dem weißen Porzellan. Bleich hängt sie in seinen Armen. Nicht die strahlende Elfenbeinhaut, die einem die Kosmetiker ins Gesicht zaubern, sondern die Farblosigkeit von unbeschriebenem Papier, als wäre sie vollkommen ausgebleicht. Er hat Mühe, ihren Leib an den Unterarmen hochzuhieven. Das blutige Wasser schwappt auf ihre nackten Brüste und rinnt am Schlüsselbein hinab. Doch ich kann den Blick nicht abwenden.
Selbst aus der Entfernung erkenne ich die hässlichen roten Wunden an den Handgelenken.
»Hör auf«, befehle ich ihm mit tonloser Stimme.
»Hilf mir, Adelice«, sagt er und zerrt noch immer an ihrem leblosen Leib.
»Es ist zu spät«, erkläre ich ihm. Das verschüttete Wasser breitet sich auf dem
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