Cocoon, Band 01
dies zu akzeptieren.«
»Wie soll man die Augen verschließen, wenn sie einem erst einmal geöffnet wurden?«, frage ich sie verzweifelt, denn ich will wissen, wie sie sich all die Jahre zurückhalten konnte.
»Wie du es am Abend machst«, erklärt sie. »Du arbeitest so lange am Webstuhl, bis du vor Müdigkeit nicht mehr kannst, dann gehen deine Augen von alleine zu.«
»Ist das der Grund, weshalb du eine weitere Erneuerung ablehnst?«
»Ja, ich weiß, es muss dir schrecklich ungerecht erscheinen. Dass ich dich hier zurücklasse, um meine Arbeit zu übernehmen, aber … «
»Du musst dich nicht rechtfertigen«, unterbreche ich sie. Selbst jetzt noch spüre ich die Last der rohen Materie, die mich niederdrückt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für sie sein muss.
»Ich konnte nicht gehen«, sagt sie. »Nicht ohne eine wahre Stickmeisterin vor Ort, die meine Arbeit weiterführt. Adelice, bestimmt weißt du, was ich von der Gilde halte. Von Cormac, Maela und ihren Marionetten. Aber dieser Puls, den du spürst, diese Elektrizität, das kommt nicht von ihnen.«
Bei ihren Worten spüre ich wieder das Kribbeln in den Fingern, das mir bewusst macht, wie sehr sie die Rohmaterie berühren wollen, doch ich tue mein Bestes, dem Drang zu widerstehen. »Wir machen es nicht für sie.«
»Nein«, bestätigt sie. »Wir machen es trotz der Gilde.«
»Werden sie mich weiterhin überwachen?«, frage ich.
»Mich haben sie überwacht, bis ich siebzig war«, entgegnet sie. »Man kann von Cormac halten, was man will, aber er hat als Erster gemerkt, dass ich keine Bedrohung für Arras darstelle.«
»Dann muss ich wohl noch eine Weile warten.«
Vierundfünfzig Jahre.
Loricel öffnet den Mund, schließt die faltigen Lippen aber wieder.
»Was?«, frage ich und lasse den Blick durch das Zimmer gleiten. »Überwachen sie uns jetzt auch?«
»Die Illusionen in diesem Atelier sind zu komplex, um sie nachzuverfolgen.«
Jetzt verstehe ich, weshalb sie sich nicht sicher ist, ob ich die ganze Wahrheit erfahren soll. Denn es könnte sein, dass ich mit diesem Wissen nicht leben könnte. Loricel muss gewährleisten, dass Arras nach ihrem Tod eine Stickmeisterin hat, und wenn ich abhaue, wäre das nicht der Fall.
»Du musst meine Zwickmühle begreifen«, sagt sie schließlich. »Diese Welt ist mein ganzes Leben. Ich habe alles dafür gegeben.«
»Ich glaube, das verstehe ich«, sage ich.
»Ich wünschte, du könntest es verstehen. Aber bevor du nicht alles geopfert, die menschliche Natur bezwungen, die Materie selbst gebändigt und jahrzehntelang kontrolliert hast, kannst du das nicht. Das ist ganz schön viel verlangt.« Die Falten in ihrem Gesicht treten deutlicher hervor, während sie spricht, als zerre die Last der Jahre an ihrer Haut.
»Aber wenn ich es nicht tue … «
»Dann wird alles verblassen.«
Mein Blick kommt auf dem Boden zur Ruhe, und ich hole tief Luft. »Dann wirst du nicht dableiben, auch wenn ich abhaue?«
»Nein«, bestätigt sie. »Meine Zeit ist abgelaufen. Es liegt an dir. Natürlich hoffe ich, dass du bleiben wirst. Ich bin überzeugt, dass du den Puls spüren und seine Bedeutung begreifen wirst.«
»Wie lange wird Arras ohne Stickmeisterin fortbestehen?«
»Sie haben genug Material für ungefähr zehn Jahre eingelagert«, gibt sie zurück. »Doch Chaos wird ausbrechen. Die Apokalypse. Und bis dahin wird Cormac das Sagen haben.«
»Im Konvent?«, frage ich. »Er benimmt sich ja jetzt schon so, als sei er der Chef.«
»Im Moment hat er nur die Aufsicht über uns, doch bald wird er zum Premierminister von Arras gewählt werden.«
»Dann hat er die Macht über alles«, flüstre ich.
»Nur nicht über dich. Wenn du bleibst.«
Ich nehme auf einem Samtdiwan Platz und arbeite mich durch diese Enthüllungen. »Nun, du musst dir keine Sorgen machen. Meine Schwester ist hier. Die werde ich nicht verlassen.«
»Da liegt das Problem«, sagt Loricel. »Ich möchte, dass du deine Entscheidung aufgrund von Fakten triffst. Du weißt über die Überschreibungstechnologie Bescheid?«
»Beim Gildenball haben sie darüber gesprochen. Gestern haben sie mich kartografiert«, erzähle ich.
»Cormac hat uns alle kartografiert.«
»Dich etwa auch?«
Sie nickt. »Er behauptet, dass sie herausfinden wollen, weshalb manche Mädchen die Fähigkeit haben, das Gewebe zu sehen und zu verarbeiten, und andere nicht. Vor allem interessiert ihn, weshalb die meisten Männer das nicht können.«
»Die meisten?« Da fällt mir
Weitere Kostenlose Bücher