Cocoon, Band 01
ist niemals nutzlos«, sage ich und habe das weise, ruhige Lächeln vor Augen, das meine Mutter immer auf den Lippen hatte, wenn sie diese Worte in meiner Kindheit zu mir gesagt hat. Unwillkürlich lege ich die Finger auf den Techprint an meinem Handgelenk.
»Es ist wichtig, dass du verstehst, woher wir kommen, Adelice. Vor allem, wenn du beim Schürfen mitarbeitest«, fährt sie fort. »Die Rohstoffe der Erde werden nicht ewig vorhalten, vor allem nicht, wenn die Gilde versucht, ohne Unterstützung einer Stickmeisterin zu schürfen. Dann haben sie niemanden, der in der Lage ist, die rohe Materie zu erkennen, aber davon werden sie sich nicht abhalten lassen.«
»Warte mal, wenn wir die Materie aus der Oberfläche ziehen«, sage ich mit großen Augen, »dann ist die Erde erstarrt!«
Loricel hält den Kopf schräg und betrachtet mich nachdenklich. »So hast du also die Verzerrung entdeckt.«
Verzerrung – das ist der treffende Ausdruck dafür. Die Augenblicke, die ich in meinem Quartier geschaffen habe, waren nicht erstarrt, sondern verzerrt. Ich hole tief Luft und gestehe ihr mein Geheimnis. Dass ich ohne Webstuhl die Zeit beeinflussen kann. Ich erzähle ihr sogar von den Augenblicken, die ich gewebt habe, lasse Jost aber unerwähnt.
»Ja«, sagt sie. »Mir war klar, dass du das kannst, aber ich hatte keine Ahnung, dass es dir auch bewusst war.«
»Es war ein glücklicher Zufall«, sage ich. Unversehens fühle ich mich in die gestohlenen Augenblicke mit Jost zurückversetzt. Ich wende mich ab, damit sie nicht sieht, dass ich erröte.
»Führst du mit deiner linken Hand?«, fragt sie.
Ich zögere und denke über die Frage nach. »Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Uns wurde beigebracht, am Webstuhl mit rechts zu führen, also wohl eher nicht. Macht das einen Unterschied aus?«
»Du bist Linkshänderin«, sagt sie. »Alle Stickmeisterinnen sind Linkshänderinnen. Denn nur so werden wir durch die Vorwärtsbewegung der Zeit nicht beeinträchtigt. Das hilft uns dabei, sie einzufangen.«
»Soll ich immer die Linke nehmen?«, frage ich, krümme die Finger meiner linken Hand und betrachte sie staunend.
»Nein.« Loricel schüttelt den Kopf. »Das ist eine mächtige Gabe. Wenn du mit rechts verzerren kannst oder beide Hände gleichzeitig benutzt, ist es so um einiges sicherer, solange du deine Fähigkeit nicht wahrhaft gemeistert hast. Die Tatsache, dass du verzerren kannst, ohne mit links zu beginnen, ist beeindruckend. Aber sei vorsichtig.«
»Okay«, sage ich und atme tief durch.
»Es gibt noch etwas, was du über das Verzerren wissen solltest«, erklärt sie und hebt dabei warnend die Hand. »Ja, du lässt den Moment um dich herum erstarren. Aber du begibst dich damit auch auf eine andere Zeitschiene. Innerhalb der Verzerrung kannst du ein ganzes Leben verbringen.«
»Kann ich dort auch sterben?«, frage ich. Wäre ein langsames Dahinscheiden mit Jost angenehmer als eine schnelle, schmerzlose Umschreibung? Tot wäre ich so oder so.
»Ja.«
»Und dann wäre ich überall tot – in der Verzerrung und im wirklichen Leben?«
»Ja«, antwortet sie teilnahmsvoll.
»Aber die Außenwelt«, sage ich und beiße mir vor Anspannung auf die Lippe, »ist dann in diesem Moment gefangen.«
»Das ist der Punkt, den du begreifen musst«, erklärt Loricel und beugt sich zu mir. »Nur der Moment, in dem du die Zeit gefangen hast, ist erstarrt. Im Grunde hast du ein Sicherheitsfeld geschaffen. Zeit und Materie darum herum sind gefroren, und niemand kann eindringen. Aber nur in der unmittelbaren Umgebung des Orts, am dem du das Geflecht gewirkt hast.«
»Außerhalb davon läuft die Zeit weiter?«
»Ja. Und letztlich wird es der Gilde gelingen, deine Verzerrung aufzubrechen, aber das dauert eine Weile.«
Also eine Warnung, dass ich nicht zu viele Hoffnungen in meine kleine Glücksblase setzen soll. Sie kann mich nur für eine bestimmte Zeit schützen und bestimmt nicht lange genug, als dass es sich lohnen würde.
»Kann man sich entlang der Zeitlinie der Verzerrung auch rückwärts bewegen?«, frage ich voller Hoffnung.
»Die Antwort darauf kennst du bereits«, sagt sie und schüttelt traurig den Kopf. »Du kannst die Zeit nicht zurückdrehen. Wir können sie in den Minen ausschlachten und sie anhalten, aber die Zeitlinien gehen immer nur vorwärts.«
»Und die Erde?«, frage ich.
Sie lehnt sich wieder zurück und faltet die Hände im Schoß. »Wo die Konvente auf den Minen ruhen, gibt es blinde Flecken. Dort fördern
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