Cocoon, Band 01
flüstert Maela in mein Ohr, »bilde dir nicht ein, dass du das Sagen hättest.«
Mein Herz schlägt laut und heftig. Sie will mich kleinkriegen, aber das wird ihr nicht gelingen. Ich berühre mit dem Finger die wie eine Sanduhr geformte Narbe an meinem Handgelenk und denke an die letzten Worte meines Vaters. Ich werde mich von dieser Frau nicht einschüchtern lassen. Die in meine Haut gebrannte Erinnerung erfüllt mich wieder mit Hass. Er brennt in meiner Brust und kribbelt in meinen Armen, sodass ich den Impuls, diese hinterhältige Person anzugreifen, nur mit Mühe unterdrücken kann.
Maela beugt sich über mich und streicht mir über das Haar. Ich atme angespannt – ein, aus – , mache mir jeden einzelnen Atemzug bewusst. Im Spiegel sehe ich, wie das Lächeln der Fremden blendend weiße Zähne offenbart.
»Wir stehen über den gewöhnlichen Leuten von Arras.« Sie spricht im Plauderton und streicht mir dabei einzelne verirrte Haare von den Schultern. »Aber du gehörst der Gilde.«
Gehörst . Ich schlucke schwer an diesem bitteren Wort.
»Du wirst alles haben.« Sie lehnt sich vor, schmiegt ihr Kinn an meine Schulter und nimmt mein mir selbst fremdes Gesicht in ihre kühle, glatte Hand. »Du wirst jung und schön sein.« Sie drückt meine Wangen und gibt ein leises, glockenhelles Lachen von sich, als wären wir alte Freundinnen oder Schwestern, die einander Geheimnisse erzählen. »Oh, Adelice, das Leben wartet auf dich!« Seufzend richtet Maela sich wieder auf und betrachtet unser Spiegelbild. Mit einer einzigen flinken Bewegung zieht sie einen langen, dünnen Stab hervor. Ich schaudere. Sie lacht noch einmal und entzündet ein Streichholz. Einen Augenblick später erglüht ihre Zigarette zu allen Seiten im Spiegel.
»Ich bin beinahe neidisch auf dich«
»Es ist mir eine große Ehre.« Mit Mühe bringe ich die Worte hervor.
Da ich ihr Spiel mitspiele, wird ihr Lächeln breiter. »Natürlich ist es eine große Ehre. Nur jemand sehr Dummes würde so ein Leben ausschlagen.«
Sie wirbelt herum, und irgendwie sieht sie dabei kein bisschen albern aus, sondern noch atemberaubender als zuvor, noch mächtiger. »Hier bist du schön, Adelice. Hier hast du die Chance auf etwas anderes, anstatt die lächerlichen Bedürfnisse der Männer zu erfüllen. Hier«, fügt sie nachdenklich hinzu, »bist du mehr als eine Sekretärin.«
Ich sehe ihr an, dass sie sich über meine Mutter lustig machen will, aber trotzdem erwidere ich ihren Blick ruhig.
»Aber eines solltest du wissen, Adelice Lewys.« Sie bläst mir Rauch ins Gesicht. »Fortlaufen kann man von hier nicht.«
Ich merke, dass ich mich hinter der Schminke verstecken kann, und meine Mutter blickt mir aus dem Spiegel entgegen.
Lass dir deine Besorgnis nicht anmerken. Gib nichts von dir preis.
»Du kannst dich nicht verstecken.« Ihr süßliches Wispern klingt fast wie ein Zischen. »Nicht einmal der Tod steht dir offen. Wähle gut, auf welcher Seite du stehst.«
Ich erwidere ihren Blick. Ich weiß noch, was der Junge als Letztes zu mir gesagt hat, und frage mich, was schlimmer als der Tod sein könnte. Doch ich kenne die Antwort bereits: kalter Stein und undurchdringliche Dunkelheit.
»Natürlich«, antworte ich knapp, weil ich fürchte, meine Stimme nicht unter Kontrolle zu haben.
Maelas Lächeln wird zu einem selbstgefälligen Grinsen, vermutlich die erste wahrhaftige Gefühlsregung, die sie mir gegenüber zeigt.
»Na gut.« Asche fällt auf mein Kleid, als sie mir die Schulter tätschelt. »Dein Zimmer wartet auf dich.«
»Maela«, sage ich mit ängstlicher, aber fester Stimme, »weißt du, was mit meiner Mutter und meiner Schwester passiert ist?« Ich muss fragen, obwohl ich Angst davor habe, ihr meine Schwachstelle zu offenbaren. Ich versuche, stark auszusehen.
»Ich kann es mir vorstellen«, antwortet sie, aber anstatt es mir zu sagen, lässt sie mich mit meinen eigenen, verzweifelten Gedanken allein und ruft ihren Gehilfen zu uns. Ich bin erstaunt, dass es sich um einen Jungen handelt, wahrscheinlich sind die Mädchen hier mit wichtigeren Dingen beschäftigt. Während sie ihm geflüsterte Anweisungen gibt, schweift ihr Blick immer wieder zu mir.
Ihr persönlicher Assistent eskortiert mich zu meinem neuen Zimmer. Als wir den Wohnbereich betreten, wandeln sich die Korridore und wirken weniger steril. Der Betonboden weicht glattem Holz, die Wände erstrahlen zinnober- und granatrot statt weiß. Wir kommen an samtbezogenen Sofas und glänzenden
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