Cocoon, Band 01
könnte widersprechen.
ACHT
A ls Kind saß ich öfter auf dem Badezimmerboden und beobachtete verzückt meine Mutter dabei, wie sie ihre Lidstriche nachzog und Rouge auf ihren Wangen verteilte. Sie war die perfekte Westfrau – attraktiv, gepflegt und gehorsam –, aber die Lachfältchen um ihre Augen machten sie noch schöner. Jeden Tag erschafft man mich neu, und ich frage mich, ob das Alter jemals ähnliche Spuren auf meinem Gesicht hinterlassen wird. Ich bin jetzt sechzehn, und ich werde für den Rest meines Lebens praktisch makellos sein. Der Gedanke hilft beim Einschlafen, aber er verursacht auch Albträume, aus denen ich mitten in der Nacht zitternd erwache.
In Sachen Kleidung stellen die Strümpfe die größte Veränderung dar. Beim ersten Tragen habe ich das Gefühl hauchdünner Seide auf der Haut genossen, aber inzwischen stört mich der Schweißfilm, der sich unter ihr bildet. Ständig sitzt die Naht hinten an meinen Beinen schief, und die Dinger rutschen dauernd. Mein glanzvolles Äußeres hat für mich nichts Aufregendes mehr, und jetzt, wo ich in Cormac Pattons Gesellschaft reise, wird es nur noch schlimmer.
Seit seinem Auftauchen im Konvent habe ich wenig bis gar keine Zeit an einem Webstuhl verbracht. Meine Webkünste darf ich nicht einsetzen, stattdessen habe ich viel Zeit, um über meine Mutter und Amie nachzudenken. Das Bild meines Vaters im Leichensack ist mir unauslöschlich eingebrannt. Wenn ich vor dem Einschlafen die Augen schließe, sehe ich es vor mir. Aber immerhin habe ich über seinen Tod Gewissheit. Das blonde Haar meiner Schwester und das makellose Gesicht meiner Mutter hingegen tauchen dauernd in meinen Träumen auf. Unweigerlich denke ich über Amies neues Leben nach, während man mir die Kleider richtet. Sie hätte ihre Freude an so einer schicken, maßgeschneiderten Garderobe. Meine Amie zumindest. Die Vorstellung, dass sie als ganz anderer Mensch weiterlebt, ist schmerzlich, als hätte man mich innerlich ausgehöhlt. Das ist alles zu viel für mich, deshalb überlege ich lieber, wie viele Kleider ich brauche. Kleider für die Transfers, Kleider für die Interviews, Kleider für die Fotos. Wenn ich die Berge Seide und Tüll sehe, die man in mein Zimmer schleppt, freue ich mich kein bisschen mehr darauf, all das zu tragen.
Und Enora könnte genauso gut bei mir einziehen. Ich soll jeden Gildenbeamten kennen, wissen, wie seine Frau heißt und wo er wohnt, und die Exportgüter seines Sektors soll ich auch aufzählen können. Arras hat einen Premierminister, jeder Sektor einen geschäftsführenden Minister, auch jede Metro hat einen. Diese Positionen werden vererbt, solange es einen männlichen Nachfolger gibt. Ein Gildenplatz kann nicht an eine Frau weitergegeben werden. Das ist mehr, als ich in zehn Jahren Akademie gelernt habe, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich dieses Wissen jemals brauchen werde. Schließlich bin ich sowieso nicht so ein Plaudertyp.
»Muss ich eine Prüfung ablegen?«, frage ich Enora, nachdem sie drei Stunden lang mein Wissen über den östlichen Sektor abgefragt hat.
»Warum rufst du nicht Cormac an und fragst ihn?«, antwortet sie schnippisch. Sicherlich hat sie das alles genauso satt wie ich, aber sie will mich nicht unvorbereitet losschicken.
»Und wie soll ich diese Leute ansprechen?«
»Ansprechen?«
»Ja, was sage ich zu ihnen? Sind denn alle Minister?« Mir fällt ein, wie viele von Cormacs Gehilfen ihn als Minister anreden statt als Botschafter.
»Du sollst sie überhaupt nicht ansprechen.« Sie schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
Ich mache keinen Hehl aus meiner Verärgerung. »Wozu soll ich denn den ganzen Kram dann lernen?«
Sie seufzt gedehnt, geradezu mütterlich, bevor sie antwortet. »Als Botschafter Pattons Begleitperson erwartet man von dir, dass du ihn an wichtige Namen und Begebenheiten erinnerst.«
»Warte mal.« Ich entwinde mich dem Griff der Näherin, die bedächtig zu meinen Füßen herumwerkelt, und wende mich Enora direkt zu. »Ich soll das also alles lernen, damit Cormac es nicht machen muss?«
»Natürlich.«
»Aber ich soll nicht mit diesen Leuten sprechen?«
»Nur, wenn sie dich ansprechen, und nur für kleine Plaudereien.«
»Unglaublich.« Ich weiß nicht, was ich verrückter finden soll, dass man Derartiges von mir erwartet oder dass Enora es offensichtlich für ganz normal hält.
»Da ist noch etwas.« Enora zögert. »Hat Botschafter Patton dich gebeten, ihn mit seinem Vornamen
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