Cocoon, Band 01
einen Anfall bekommen.«
Zum ersten Mal bin ich Maela für ihre Eifersucht dankbar. »Er wollte mir ein Komplant einsetzen lassen?«
»Er will schon seit Jahren, dass Webjungfern welche bekommen«, erklärt sie. »Er behauptet, sie könnten so schneller auf drohende Gefahren reagieren.«
»Stimmt das?«
»Nein. Zu jeder Tages- und Nachtzeit sind Webjungfern im Notdienst tätig. Er will uns vor allem abhören.«
Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie überrascht ich über ihre Offenheit bin.
»Was hatte Maela denn dagegen?«
»Mach dir keine Sorgen. Sie denkt nicht plötzlich anders über dich. Sie hat bloß nicht die Zustimmung von Loricel erhalten, deshalb habe ich die Digiakte vorgeschlagen.«
»Loricel?«, frage ich, während ich auf meiner Digiakte herumdrücke.
»Sie ist die einzige Person hier, die Cormac widerspricht.«
Ich horche auf und lege die Digiakte beiseite. »Wer ist sie?«
»Sie ist die Stickmeisterin.«
»So wie du?«, frage ich, als mir Enoras vielfältige Pflichten wieder einfallen.
»Nein, ich bin nichts im Vergleich zu ihr«, erklärt sie. »Ich assistiere ihr nur bei bestimmten Projekten.«
»Aber es gibt mehr als eine Stickmeisterin, oder?«
»Eigentlich nicht«, sagt sie, während sie es sich auf einem Kissen am Boden gemütlich macht. »Wahre Stickmeisterinnen sind sehr selten. Loricel ist die einzige Stickmeisterin von Arras.«
»Die einzige?« Ich halte inne und setze mich neben sie.
»Stickerei ist ein purer Akt der Schöpfung. Stickmeisterinnen machen mehr, als nur den Stoff von Arras zu weben. Sie arbeiten mit dem Material, aus dem das Gewebe hergestellt wird. Nur sie können die Webstruktur der Rohstoffe erkennen.« Sie sieht mich an. »Nur durch Loricel kann Arras bestehen. Die Webjungfern hätten kein Material zum Weben, wenn es ihre besondere Gabe nicht gäbe.«
»Wie als ist sie?«, frage ich mit einem flauen Gefühl im Magen. So viele Jahre habe ich mich versteckt und meine Fähigkeit, das Gewebe ohne Webstuhl berühren zu können, verheimlicht – auf Enoras Bitte hin sogar hier. Jetzt ergibt all das mit einem Mal Sinn. »Sicher ist sie uralt. Was passiert, wenn sie stirbt?«
»Man wird eine neue Stickmeisterin finden.« Ruhig erwidert Enora meinen Blick. »Aber bis jetzt sind noch keine Anwärterinnen aufgetaucht.«
»Und wenn sie keine finden?«
»Dann wird Arras sich auflösen.«
Ich durchforste ihr Gesicht nach Anzeichen von Trauer oder Furcht, kann aber keine finden. Falls der Gedanke, dass Loricel sterben könnte, sie ängstigt, zeigt sie es zumindest nicht. Ich hingegen sehe Amie vor mir, wie sie mit ihren Freundinnen lacht, und die hübschen Fältchen um Josts Augen. Ohne eine Stickmeisterin werden auch sie sich auflösen. Ich will gar nicht darüber nachdenken.
»Cormac hat mir Amie gezeigt«, sage ich leise.
»Deine Schwester?«, fragt Enora nach, und ich nicke.
Seit ich hier bin, habe ich nicht ein einziges Mal von ihr gesprochen. Es ist, als wäre mein Leben in zwei Hälften gespalten. Alles vor meiner Einberufung ist tabu. Ein früheres Leben, das hier nichts verloren hat, und obwohl Amie nicht tot ist, existiert sie für mich nur noch in der Vergangenheit. Doch in Gedanken halte ich an ihr fest, und die Erinnerungen, die während der Reisevorbereitungen ruhelos in meinem Kopf kreisen, wollen herausbrechen und Gehör finden.
»Sie war glücklich.« Der Schmerz lässt sich deutlich aus meiner Stimme heraushören. Ich verschweige, dass Amie jetzt eine andere ist, und was man mit ihr gemacht hat. Und ich verschweige auch, dass ich gedanklich nicht mehr nur bei meinen Erinnerungen bin, sondern bereits bei Plänen für die Zukunft – dass ich mich eigentlich nur deshalb zu dieser Reise bereit erklärt habe, weil ich durch sie zurück in die alte Welt kann, in der Amie noch existiert, wenn auch als jemand anders.
»Der Transfer wird dieses Mal vermutlich viel angenehmer werden.« Enora drückt mir die Digiakte in die Hand, und ich kehre in die Gegenwart zurück.
Mir fällt wieder ein, dass ich bei meinem ersten Transfer gefesselt war, meine Finger beginnen zu zittern. »Man wird mich doch nicht … «
»Nein.« Anscheinend weiß sie, was ich denke. »Du wirst Erster Klasse reisen. Botschafter Patton möchte, dass du zufrieden bist.«
»Ich weiß immer noch nicht genau, womit ich das verdient habe«, gebe ich zu.
Enora lächelt traurig. Keiner von uns ist so dumm zu glauben, dass die mir zugedachten Privilegien etwas mit
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