Cocoon, Band 01
»Das hilft, aber du wirst trotzdem etwas spüren.«
»Was werde ich spüren?«, frage ich, doch bevor sie antworten kann, stürmt Maelas grobschlächtiger Leibwächter mit dem kahl geschorenen Schädel herein. Ich bin erleichtert und enttäuscht zugleich.
»Enora.« Er tippt sich grüßend an den Kopf. »Maela benötigt Adelice für eine besondere Prüfung.«
»Warte«, sage ich, obwohl er nicht mit mir spricht. »Ich dachte, ich hätte die Prüfungen hinter mir.«
Sie wechseln einen vielsagenden Blick, der mir die Galle hochkommen lässt.
»Gelegentlich«, erklärt Enora mit wohlgesetzten Silben, »werden wir einer spontanen Prüfung unterzogen. So zeigt sich, welche Leistung du unter Druck ablieferst.« Ihr Gesichtsausdruck erinnert mich an den meiner Mutter, bevor sie in den Tunnel geflüchtet ist. Sie hat verloren, ganz gleich, was sie tut, und die Trauer lässt ihren Blick schwermütig werden. Aus einem Bauchgefühl heraus nehme ich sie in die Arme und vergrabe das Gesicht an ihrem Hals. Enoras Arme sind warm und kräftig, und ich wünschte, dass sie die meiner Mutter wären. »Deine Seele gehört dir allein«, flüstert sie in mein Haar. »Lass dir das nicht nehmen, ganz egal, was sie mit dir machen.«
Worte würden mich nur verraten und mich zum Weinen bringen, deshalb setze ich ein tapferes Lächeln auf, während ich mich von ihr löse und ohne weitere Fragen dem stämmigen Wachmann folge. Als ich mich ein letztes Mal umdrehe, sehe ich die Besorgnis in Enoras Zügen, doch als sich unsere Blicke treffen, lächelt sie rasch. Uns beiden ist klar, dass diese Prüfung weder spontan ist noch dazu dient, meine Fortschritte zu ermitteln. Dies ist eine weitere Strafe.
Dort, wo Enora den Klarlack aufgetragen hat, sind meine Fingerspitzen hart wie Stein. Zwar fühle ich sie noch, aber wenn ich sie aneinanderpresse, biegen sich die Nägel nach hinten. Gleichzeitig ist die Haut unter dem Lack taub.
»Willst du einen guten Rat?«, sagt der Wachmann ruppig. »Lass das.«
»Was?«, frage ich.
»Das«, erwidert er, und sein Blick huscht zu meinen Fingerspitzen. »Sonst reitest du sie nur mit hinein, weil sie dir geholfen hat.«
In meiner Brust, meinen Armen und Beinen breitet sich kriechend schmerzhafte Kälte aus. Wo bin ich da nur hineingeraten?
»Ist mit Erik alles in Ordnung?«, frage ich möglichst beiläufig. »Normalerweise bringt er mich zu solchen Sachen.«
»Ja«, grunzt der Wachmann. »Maela hat die Zuständigkeiten vorerst verändert. Künftig wird er mehr mit ihr zu tun haben.«
Auch wenn mich diese Neuigkeit nicht überrascht, schmerzt sie mich doch. Erik war immerhin so etwas wie ein Freund, und wenn seine Beweggründe auch nicht sonderlich edel waren, so hat er mich doch zum Lachen gebracht. Und dann war da der Kuss. Etwas, womit ich überhaupt nicht umzugehen weiß.
In den Korridoren ist es still. Von dem Ball ist nichts mehr zu hören, selbst die ausdauerndsten Gäste sind offenbar im Bett. Welche Strafe wird um vier Uhr morgens vollstreckt? Nur eine, von der niemand erfahren darf. Enora hat mich gewarnt, dass etwas Derartiges passieren würde, wenn ich mich mit Erik einlasse. Aber ich habe nicht auf sie gehört.
Mein neuer Begleiter führt mich bis zu einer doppelten Schwingtür und hält mir einen Flügel auf. »Übrigens, ich bin Darius«, erklärt er mir, und sobald ich durch die Tür gegangen bin, ist er verschwunden.
Aufgedunsenes weißes Plastik bedeckt die Wände des kahlen Ateliers. Ein Fenster, ein Webstuhl, eine Gestalt. Maela erwartet mich bereits vollkommen angekleidet. Und ich habe nicht einmal Unterwäsche an. Sie muss ihre Kosmetikerin im Badezimmer eingesperrt haben. Doch als sie sich mir zuwendet, muss ich feststellen, dass sie keine Schminke trägt. Ohne die harten Kanten, die Rouge und Kajal ihnen verleihen, wirken ihre Züge sanfter. Sie sieht ganz normal aus, wenn nicht gar hübsch, aber ihr Blick ist unverändert: kalt und voller Hass.
»Manchmal«, sagt sie, »müssen wir neue Webjungfern einem Überraschungstest unterziehen. Einige Gildenbeamte haben Bedenken über deine Fähigkeit geäußert, so früh mit der Arbeit einer Stickmeisterin zu beginnen. Wie du weißt, ist diese Arbeit von allerhöchster Wichtigkeit, und es ist meine Pflicht, sie davon zu überzeugen, dass du bereit dafür bist.«
»Welche Beamten?«, frage ich für den Fall, dass sie blufft.
Ungerührt lächelt sie. »Darüber mach dir mal keine Gedanken. Wichtig ist nur, dass du dich auf die
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