Cocoon, Band 01
zugeteilt.
»Da habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Sie war sechzehn, und meine Tochter war drei Monate alt.«
Ich habe keine tröstenden Worte für ihn, deshalb ergreife ich seine Hand und halte sie sanft mit meinen bandagierten Fingern.
»Ich bin hier, weil sie sie hier am wenigsten suchen«, vertraut er mir an, um endlich meine Frage zu beantworten.
»Wen suchen sie hier nicht?«, frage ich, bin mir aber nicht sicher, ob ich die Antwort hören will.
»Die Revolution.«
VIERZEHN
I ch träume von den Menschen, die ich liebe. Ich bin fünf, und meine Mutter schminkt sich vor dem Waschbecken im Badezimmer. Doch jedes bisschen Make-Up nimmt ihr etwas, anstatt etwas hinzuzufügen. Der Mascara radiert die Wimpern weg, das Rouge höhlt ihre Wangen aus, und der Lippenstift hebt ihr Lächeln auf. Sie kämmt sich, und die kupferroten Haare lösen sich in Luft auf. Ihr enthaupteter Leib wendet sich mir zu und fragt mich: »Wie sehe ich aus?«
Amie ist ein Baby, und ich klammere mich an sie, doch je fester ich zupacke, desto mehr verblasst sie. Ich vermag sie nicht zu beschützen. Ich sehe sie, neu verwoben, ein junges Mädchen mit dünnen blonden Zöpfen. Ich winke ihr zu, doch sie starrt durch mich hindurch. Denn ich bin es, die verschwunden ist. Ich bin der Geist.
Ein riesiger weißer Kuchen von der Größe eines Webstuhls ruht auf einem schlichten Tisch. Darunter schmilzt mein Vater, zerfließt zu einer klebrigen schwarzen Flüssigkeit. Die Pfütze breitet sich aus und reicht immer näher an meine nackten Füße heran. Er ruft um Hilfe, aber ich habe solche Angst, mir die Füße schmutzig zu machen, dass ich nur zuschaue, wie er sich auflöst.
Und im Hintergrund meines Traums steht Jost, erstarrt. Nur das Blinzeln seiner Lider verrät, dass er nicht schläft und über mich wacht und darauf wartet, dass ich ihm helfe. Doch als ich auf ihn zugehe, sehe ich sie, so viel schöner als ich selbst, schwanger und lachend. Sie hält seine Hand, und ich schaue weg. Als ich mich wieder umdrehe, verwandelt er sich in Erik, der die Arme nach mir ausstreckt und mich zu sich winkt.
Im Schlaf radiere ich die Welt aus und erschaffe sie neu, und am nächsten Morgen versuche ich, mich daran zu erinnern, wie ich mich selbst neu erschaffe. Jeden Tag frage ich mich, wie ich an den Webstuhl zurückkehren kann. Kann ich jetzt, da ich all dies weiß, noch weiterweben? Josts Geschichte vermag ich nicht aus meinem Gedächtnis zu löschen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ich nichts damit zu tun hatte. Ich bin noch immer eine Webjungfer.
Jeden Tag kommt Jost zu mir, um meine Hände mit der regenerativen Salbe einzucremen, und sie heilen schnell. Doch meine Stylistin taucht nicht auf. Bereits eine Woche ist vergangen, und Enora hat sich nicht blicken lassen. Ich frage mich, ob ich sie in Schwierigkeiten gebracht habe. Zu den Mahlzeiten bekomme ich etwas zu essen. Ich lasse das Nachthemd an, lümmle vor dem Feuer und lebe für die wenigen Minuten, in denen Jost mich verarztet. Heute bringt er das Mittagessen, und wir speisen zusammen. Unsere Unterhaltung scheint oberflächlich dahinzuplätschern, aber nur, weil wir uns über einen Code verständigen. Teilweise können wir uns unsere Geschichten offen erzählen, doch andere Dinge, die ich unbedingt erfahren möchte, darf man nicht laut aussprechen, solange die Gefahr besteht, dass wir abgehört werden. Schließlich können wir auch nicht ständig unsere Zeit im Badezimmer verbringen, wo das Rauschen des Wassers uns übertönt. Das würde Aufmerksamkeit erregen. Doch trotz all meiner Bemühungen, unser Gespräch auf seine Pläne zu lenken, scheint er mehr an mir interessiert zu sein.
»Es war kein richtiger Kampf«, lache ich, als ich ihm von meiner Nachbarin Beth erzähle. »Sie hat Amie getriezt, und da hatte ich irgendwann die Schnauze voll. Deshalb habe ich sie mehr oder weniger umgehauen.«
»Aber du hast deine kleine Schwester sehr lieb gehabt, oder nicht?«, bohrt er nach. »Hört sich so an, als wärt ihr beiden oft in Schwierigkeiten geraten.«
»Amie war immer regeltreuer als ich, deshalb ist sie dauernd ausgeflippt, wenn ich etwas gemacht habe, was uns in Schwierigkeiten hätte bringen können«, sage ich. »Als ich mich mit Beth geprügelt habe, machte sie sich Sorgen, dass man mich in ein Programm für Kinder mit abweichendem Verhalten stecken könnte.«
»Aber das hat man nicht getan«, sagt er.
»Nicht mit mir, aber mit Beth.« Bis eben hatte ich daran gar
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