Cocoon, Band 01
nicht mehr gedacht. Es gehörte zu den Erinnerungen, die einem im Kopf stecken, ganz gleich, wie sehr man versucht, sie zu unterdrücken. Beth war fortgegangen, als ich zwölf war, und als sie wiederkehrte, war sie eine andere. So unfreundlich wie zuvor – aber nicht nur mir gegenüber, sondern zu jedermann.
»Mein großer Bruder ist nur zehn Monate älter als ich«, sagt er und ruft mich in die Gegenwart zurück. »Meine Mutter nannte uns Rabauken.«
Darüber muss ich lächeln, doch dann rechne ich kurz nach und bekomme große Augen. »Zehn Monate?«
Sein Grinsen wird schief. »In einem armen Fischerdorf gibt es nicht viel zu tun.«
Ich weiß mehr über Babys und derlei Dinge als die meisten Mädchen in meinem Alter. Nun, vermutlich haben die anderen Mädchen in Romen inzwischen Kurse zur Hochzeitsvorbereitung belegt. Dort wird man über Sex aufgeklärt. Natürlich hatten mich meine Eltern schon vor Jahren bis ins kleinste, peinlichste Detail informiert. Auch das war Teil ihrer gut gemeinten Vorstellung davon, wie sie mir die Welt erklären wollten. Doch hier im Konvent, wo ich mit einem Typen zusammensitze, dessen Gegenwart mir wohlige Gänsehaut verursacht, und wo das »Privileg der Ehe«, wie meine Mutter es genannt hat, völlig tabu ist – hier ist dieses Wissen ziemlich nutzlos. Und dazu kommt der Umstand, dass er Erfahrung aus erster Hand besitzt, die ich niemals erlangen werde. Es ist eindeutig Zeit, das Gesprächsthema zu wechseln.
»Dann warst du also ein Jäger?«, frage ich, wieder in unsere Codesprache wechselnd, während ich mir achtlos Reis in den Mund stopfe. Meine verbundenen Hände sind noch immer ein Hindernis, wenn es um Feinmotorik geht – oder um den Gebrauch von Gabeln.
Jost, wieder ernst geworden, nickt. »Ich hatte es auf Großwild abgesehen. Wild, mit dem man viele Leute satt bekommt und viel Geld machen kann.«
»Welche Tiere zählen zum Großwild?« Ich frage ganz beiläufig, damit keine Komkonsole etwas Ungewöhnliches oder auch nur Interessantes erfassen kann.
»In erster Linie Bären und Pumas.«
»Kann man Bären und Pumas essen?« In gespieltem Ekel ziehe ich eine Grimasse.
»Ad, man kann alles essen, wenn man nur hungrig genug ist.« Jost grinst mich über eine Hühnerkeule hinweg an.
Die Unterhaltung gerät ins Stocken, während wir essen, und wir verfallen in Schweigen. Über Hunger spricht man nicht, nicht einmal in Codesprache, denn da die Gilde behauptet, dass es in Arras keinen Hunger gibt, grenzt eine solche Unterhaltung an Verrat. Ich habe mit meiner Familie am Rand einer Metro gewohnt, und meine Eltern hatten beide Arbeit. Obwohl die Nahrungsrationen nicht berauschend waren, litten wir doch niemals Not. Jost dagegen musste schwer für sein Essen schuften, und viele in seinem Dorf hätten gar nichts gehabt, wenn die Fischer nicht so nett gewesen wären, ihnen etwas abzugeben. Und auch das war davon abhängig, was den Fischern selbst blieb, nachdem sie ihre Quote an die Gilde abgeführt hatten.
Natürlich war Jost kein einziges Mal auf der Jagd gewesen. Er hat fünfzehn Stunden am Tag auf dem Wasser gearbeitet, um seine Familie und eine Handvoll Nachbarn durchzufüttern. Das weiß ich, weil wir während kurzer Ablenkungsmanöver Codeworte vereinbart haben. Meistens müssen wir raten, und oft gibt es Missverständnisse, aber wir werden von Tag zu Tag besser mit unseren Doppeldeutigkeiten. Die Bären sind Ministeriumsbeamte, und Pumas sind Webjungfern. Jost sucht diejenigen, die für den Angriff auf Saxun verantwortlich sind. Was er vorhat, wenn er es herausbekommt, dafür haben wir kein Codewort. Und ich bin nicht sicher, ob ich es wissen möchte.
»Hast du jemals miterlebt, wie ein Puma einen Hirsch anfällt?« Ich versuche, ihn über Erik auszufragen, aber ganz gleich, wie ich es anstelle, Jost kapiert nicht, was ich meine.
»Bestimmt ist das schon mal vorgekommen«, sagt er und bedeutet mir mit einem leichten Schulterzucken, dass er leider nicht versteht. Wären meine Fragen doch nur so leicht verständlich wie seine Körpersprache.
Und da dämmert mir die Lösung unseres Problems. Sie ist so banal, dass sie mir erst jetzt einfällt. »Jost, was ist wichtiger beim Jagen: sehen oder hören?«, frage ich aufgeregt.
»Was meinst du damit?«
»Als du auf der Jagd warst, wolltest du da deine Beute lieber sehen oder lieber hören?«
Er begreift und nickt mir ganz leicht zu. »Sehen ist gut, aber die meisten wollen sie lieber hören.«
Da haben wir es also:
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