Cocoon, Band 01
wenigstens teilweise erleichtert, dass ich es nicht kann. Wenn ich Jost zu seiner Familie zurückbringen könnte, würde ich das tun? Diese Entscheidung möchte ich nicht treffen müssen.
»Aber wie schaffst du das ohne Webrahmen?«, fragt er und versucht, seine Enttäuschung zu verbergen. »Wie kannst du die Fäden überhaupt sehen?«
»Ich wünschte, ich wüsste es«, sage ich mit einem freudlosen Lachen. »Vielleicht würde ich dann nicht in dieser Klemme sitzen.«
»Wissen sie davon?«
Ich zögere, weil ich mir nicht sicher bin. Cormac meint, sie hätten bei der Prüfung gesehen, dass ich es kann, aber ich habe darauf geachtet, hier niemals ohne Rahmen zu weben. Das teile ich Jost allerdings nicht mit. »Enora hat mir empfohlen, es ihnen nicht zu sagen.«
Jost stößt einen leisen Pfiff aus, während er unter der kleinen Kuppel auf und ab geht und sie so genau wie möglich unter die Lupe nimmt, ohne sie zu berühren. »Enora ist schlau. Was wäre, wenn jetzt jemand dein Zimmer betreten würde?«
»Das ist es ja gerade«, erkläre ich. »Das geht nicht. Dieser Augenblick« – ich deute auf das Zimmer außerhalb der Kuppel – »ist eingefroren.«
»Dann könnten wir also hierbleiben«, sagt er langsam, »und ganz gleich, wie viel Zeit vergeht, draußen stünde sie still.«
»Genau.« Ich halte inne, da mir plötzlich auffällt, dass ich darüber keine Gewissheit habe. »Glaube ich jedenfalls. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung.«
»Dann ist es also wahr.«
Ich schaue ihn verständnislos an.
»Man munkelt, dass Loricels Nachfolgerin gekommen sei. Alle versuchen herauszufinden, welche von euch es ist«, erklärt er. »Du oder die andere.«
»Pryana?«, frage ich leicht gekränkt.
Jost ist zu sehr mit Staunen beschäftigt, um es zu bemerken, und nickt. »Ich wusste, dass du es bist, seit sie dich in die Zelle geworfen haben.«
»Aber woher wissen sie es?« Hat ein Ausrutscher gereicht, um meine Fähigkeit zur Stickmeisterin zu verraten?
»Ich weiß es nicht«, sagt er. »Aber wie sie dich behandeln, ehrerbietig und furchtsam zugleich – die wissen, dass du es bist.«
Mir fallen die Drohungen ein, die ausgesprochen, aber nie wahr gemacht wurden.
»Stickmeisterinnen tauchen nicht so häufig auf. Sie können es sich nicht leisten, dich zu verlieren«, sagt er.
»Aber das hier ist doch keine Stickarbeit?« Ich berühre die Zeit, die ich um uns her gewoben habe. »Loricel hat immer einen Webstuhl benutzt.«
»Stickmeisterinnen sticken nicht nur.« Jost setzt sich auf den Teppich, und ich geselle mich zu ihm, eingesponnen und sicher in meinem Augenblick. »Einmal im Jahr besucht Loricel die Minen und trennt die Elemente von der Zeit, um die Maschinen zu reinigen und das Material, das für die Erhaltung von Arras’ Gewebe notwendig ist, auf die Konvente zu verteilen. Bei den Versammlungen, in denen die Beamten die Besuche planen, bediene ich immer. Ohne ihre Fertigkeiten wären die Webstühle nutzlos.« Besorgnis schleicht sich in seine Stimme.
»Auf der Akademie haben sie uns beigebracht, dass die Maschinen die Elemente entdeckt haben.«
»Fühlst du dich etwa nicht wie eine Maschine?«, fragt er. »Geölt, instand gehalten und dazu erschaffen, den Willen derer zu erfüllen, die dich steuern?«
Ich antworte nicht. Ich weiß keine Erwiderung, nur eine Warnung, und auch die klingt mechanisch: »Du darfst es niemandem sagen.«
»Das mache ich nicht«, verspricht er mir schnell. »Aber sie wissen es bereits.«
»Sie glauben, es zu wissen«, wende ich ein.
»Sie wissen es, Adelice.«
Die Träume sind lebhafter, aber ich vermag sie inzwischen zu beherrschen. Ich bemale die Augen meiner Mutter neu und webe mir meine Schwester zurück in meine Arme. Mein Vater, der mir so grausam genommen wurde, bleibt verloren. Doch ich versuche es weiterhin. Währenddessen wechseln Jost und Erik sich ab, wachen über mich, und wenn ich erwache, sind mir ihre Blicke ins Bewusstsein gebrannt.
Als Enora endlich erscheint, um mich über die Vorgänge außerhalb meines Zimmers zu informieren, erwäge ich ernsthaft, mich aus dem Gelände hinauszuweben. Diesmal überspringt sie die Nettigkeiten und den Small Talk und kommt gleich zur Sache.
»Wie du weißt, hat die Gilde noch nie da gewesene Fortschritte bei der Technologie zur Gedankenkartografie gemacht.« Ihre Stimme ist so unbeweglich wie ihre Haltung. Keine Spur von Freundlichkeit, ich muss ihr wirklich enorme Probleme bereitet haben, wenn sie sich so
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