Cocoon, Band 01
Der Konvent belauscht die Quartiere, aber im Gegensatz zu den Ateliers überwacht er sie nicht mit Kameras. Zumindest glaubt Jost das, und er weiß eine ganze Menge über die Dinge, die hier abgehen. Jetzt weiß ich, was ich tun muss, falls ich es raus schaffe – auch wenn es bedeutet, dass ich ein Versprechen brechen muss.
»Nun, danke, dass du mir das Mittagessen gebracht hast«, sage ich und begleite ihn zur Tür. Er folgt mir, doch ganz offensichtlich versteht er nicht. Zwar haben wir das meiste aufgegessen, aber für gewöhnlich bleibt er noch eine Weile sitzen. Als ich die Tür öffne und sie dann geräuschvoll wieder schließe, hält er still und wartet, was ich von ihm will. Ich deute auf den Teppich vor der Feuerstelle. Er geht hin, und ich folge ihm, während ich meine Aufmerksamkeit auf das Geflecht des Zimmers richte, bis die Fäden um mich herum schimmern und deutlich sichtbar werden. Zeit und Materie sind sehr eng miteinander verwoben, und ich muss mich auf die goldenen Lichtsträhnen konzentrieren, bis ich die Zeitfäden unterscheiden kann. Auf dem Webrahmen sind sie so viel leichter zu erkennen, doch immerhin verläuft die Zeit immer quer, sodass ich sie finden kann, wenn ich nur aufmerksam genug hinschaue. Langsam strecke ich die verletzten Finger aus, ziehe an den Fäden und vertausche sie. Das Feuer im Kamin faucht und knistert so laut, dass es mir in den Ohren dröhnt. Die Luft erfüllt sich mit eisiger Kälte, obwohl die Heizung angestellt ist. Ich verwebe die verworrene Zeit zu einem Geflecht aus goldenem Licht, das uns wie eine leuchtende Kuppel überwölbt. Am Teppich unter unseren Füßen hört sie auf. Durch das durchscheinende Gespinst können wir das Feuer und das Zimmer noch immer sehen, aber wir vernehmen das Geknister der Holzscheite nicht mehr, und die leckenden Flammen werden immer starrer, bis sie völlig eingefroren scheinen, wie auf einem Bild. Dann verbinde ich die letzten Lichtfäden.
»Was hast du getan?«, flüstert er.
»Ich habe einen anderen Augenblick gewoben.« Ich staune genauso darüber wie er, dass es geklappt hat. »Ich war mir nicht sicher, ob ich es noch mal schaffe.« Das war es nämlich, was ich bei meiner Prüfung gemacht habe. Damals war es ein Ausrutscher, ich habe nicht den Faden auf dem Webstuhl zu fassen bekommen, sondern einen des Ateliergewebes, weshalb hinterher alles ziemlich durcheinanderging. Ich konnte es wieder glatt ziehen, mehr war gar nicht nötig. Schon seit Jahren studiere ich das Geflecht um mich herum, lange genug, um zu wissen, dass das, was ich getan habe, von den Aufsichtspersonen, die die Prüfung durchführten, auf jeden Fall bemerkt werden würde. Allerdings hatte ich nie darüber nachgedacht, wie ich meine Entdeckung für meine eigenen Zwecke nutzen konnte. Bis jetzt.
»Was bedeutet das?«, fragt er und streckt die Hand nach dem goldenen Gespinst aus, zieht sie aber wieder zurück, bevor er es berührt.
»Ich weiß nicht«, gestehe ich.
»Können sie uns hören?«
»Ich glaube nicht.« Ich bedeute ihm, dass er leise sein soll. Dann schiebe ich die Strähnen, die uns von dem nahen Feuer trennen, vorsichtig beiseite. Da brausen die Flammen wieder auf. Rasch verwebe ich die Fäden miteinander, und das Feuer erstarrt erneut.
»Es ist eingefroren«, murmelt er ungläubig. »Aber wie?«
»Dieser Augenblick existiert außerhalb der Wirklichkeit. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.« Er starrt mich an, als wäre ich ein Schreckgespenst. Ich kann es ihm nicht verübeln. So dürfte das nicht funktionieren. »Ich weiß, dass man eigentlich einen Webstuhl braucht, um zu weben, aber ich kann das Geflecht auch ohne erkennen.«
Die Art, wie er zurückweicht, lässt deutlich erkennen, dass ich in seinen Augen mit einem Mal zum Monster geworden bin.
»Kannst du das schon immer?«, fragt er.
»Nicht ganz genau so, aber ich kann seit meiner Kindheit weben.«
»Ohne Webstuhl?«, fragt er verblüfft.
»Ja.«
»Also hast du das Zimmer irgendwie verdreht?« Ich sehe, dass es ihm schwerfällt zu begreifen. Ich verstehe es ja selbst kaum.
»Die hier«, erkläre ich, indem ich an den Lichtfäden zupfe, »sind die Zeit. Sie bewegen sich unablässig durchs Geflecht. Wahrscheinlich, weil Zeit immer vorwärts fließt.«
»Kann man sie zurückbewegen?«, fragt er leise, und ich weiß, was er gerade denkt.
Ich schüttle den Kopf. So sehr ich mir wünsche, das Gewebe zurückflechten und meine Eltern retten zu können – zum ersten Mal bin ich
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