Codename Azteke
waren die Verbrechen gegen die Kinder, die Rosa schließlich so ans Herz gingen, dass sie nach zwei Monaten Informationssuche für Pintos »politische Angelegenheit« anfing, ihren eigenen raison d’être in Frage zu stellen, und der Glanz ihrer Erfolge im Außenhandel zu verblassen begann. Und in genau diesem Stadium kam sie in jenem schicksalhaften Dezember 2003 in Chile an.
Rosas Büro in Santiago lag im achten Stockwerk eines Hauses im Providencia-Distrikt. Als Teil der spanischen Botschaft genoss es vollen Diplomatenstatus, auch wenn die offizielle Bezeichnung Oficina Comercial lautete.
Luis Bianchi saß Rosa an ihrem großen Schreibtisch gegenüber und blätterte schweigend die Madrider Tageszeitungen vom Vortag durch, während sie die Dokumente las, die er gerade gebracht hatte. Er war ein gut aussehender Mann Mitte vierzig, Vater von sechs Kindern und Teilhaber einer kleinen Rechtsanwaltskanzlei in der Hafenstadt Valparaíso. Außerdem war er Menschenrechtsaktivist und
hatte Spanien in den letzten drei Jahren bei der Suche nach den Mördern geholfen.
Von Osvaldo Ortiz hatte Rosa noch nie etwas gehört, doch als sie seine Akte las, überlief sie ein Schauer. Bald wurde ihr klar, dass, was auch immer Richter Pinzóns Motive sein mochten, es ihr ein Vergnügen sein würde, diesen Abschaum der Justiz zu übergeben.
Ortiz war in der südchilenischen Stadt Valdivia geboren, wo sein Vater als Schneider und seine Mutter als Näherin arbeiteten. Auch wenn die Ortiz’ im Großen und Ganzen iberischer Abstammung waren, so war Osvaldos Mutter doch halbe Mapuche-Indianerin, und von ihr hatte er die dunkle Haut, das rabenschwarze Haar und die schmalen Augen geerbt. Als Kind war er gut in der Schule und hatte eine glückliche Kindheit. Als an einem tragischen Herbstnachmittag 1960 ein schweres Erdbeben Valdivia zerstörte, befanden sich Osvaldos Vater, sein älterer Bruder und seine Schwester unter den fünftausend Todesopfern. Bei zwei Millionen Obdachlosen und völlig erschöpften Hilfsmitteln hielt es Ortiz’ geplagte Mutter für das Beste, mit ihrem Sohn nach Norden nach Valparaíso zu gehen, wo ihre Schwester mit ihrem Mann, einem Polizeibeamten, einfach, aber sorglos lebte.
Osvaldo schloss seine Schule mit Bestnoten ab. Doch ohne die Mittel für eine Universitätsausbildung entschied er sich für eine militärische Laufbahn und wurde im März 1967 an der Militärakademie Bernardo O’Higgins in Las Condes aufgenommen.
Als 1970 Salvador Allende zum Präsidenten gewählt wurde, war der Einundzwanzigjährige Unterleutnant und begann noch im gleichen Jahr für den militärischen Geheimdienst
zu arbeiten. In den folgenden drei Jahren wirtschaftlicher und politischer Unruhen schloss sich Ortiz immer mehr den reaktionären Gruppierungen innerhalb der Streitkräfte an, die Allendes immer engere Verbindung mit der Sowjetunion und ihren kubanischen Marionetten mit Abscheu betrachteten.
Die tiefgreifende Krise, die sich aus der fehlgeschlagenen marxistischen Wirtschaftsführung ergab, machte Ortiz’ Mutter das Leben extrem schwer. Mit großer Mühe und harter Arbeit hatte sie es geschafft, sich eine bescheidene Wohnung in Valparaíso zu mieten, und kam gerade eben zurecht. Zudem machte die Hyperinflation die Hoffnungen der Lohnempfänger auf einen Mittelklassestandard zunichte, und dazu zählten auch die Offiziere des Militärs.
Ortiz erkannte beim Geheimdienst das Ausmaß der ausländischen Intervention: In den abgefangenen Botschaften zeigte sich die sowjetische und kubanische Einmischung bis hin zu einzelnen Barzahlungen und geheimen Bankkonten – Informationen, die manchmal von den Chilenen selbst entdeckt und manchmal von der CIA zugespielt wurden.
1973 stand der frisch beförderte Capitán, der der Gegenspionage zugeteilt worden war, an vorderster Front der brutalen Repressalien, die in den Tagen direkt nach dem Militärputsch am 11. September folgten.
Noch während der Moneda-Palast qualmte und die Panzer durch die Straßen von Santiago rollten, verhaftete Ortiz mit seinem Team die zuvor ausgewählten Leute, deren Aktivitäten sie seit Monaten verfolgten. Zunächst wurden sie in das Fußballstadion der Stadt getrieben, um Fluchtversuchen vorzubeugen. Dann wurden sie einzeln
oder in kleinen Gruppen zu vorbestimmten Orten zur besonderen Vernehmung und Folter gebracht.
Ortiz’ Name tauchte wiederholt in Zeugenaussagen sowohl früherer Gefangener als auch angeklagter Mitarbeiter der illegalen Gefängnisse
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