Codename Hélène
Andrée, Sonja, Vera und Diana. Dass eine von denen, das Mädchen Andrée, einst als Kurierin zu seinem Netzwerk in Marseille gehört hatte, wusste er damals noch nicht. Als er dann im Prozess gegen die Mörder eine Aussage über jene Todesnacht in Natzweiler machte, war ihm allerdings bewusst, wer damals verbrannt worden ist, als er die Flammen sah.
Es mag zynisch klingen – doch wie gut, dass jetzt, im Sommer der Entscheidungen in der Auvergne, davon weder in London noch bei den britischen Agenten in den Wäldern etwas bekannt war. Es hätte den Hass auf die Deutschen zwar beflügelt, aber die notwendigen kühlen Entscheidungen verhindert. Das neue Hauptquartier nach der freiwilligen Räumung des Plateaus liegt tief im Wald verborgen. Künftig stehen sich nicht mehr wie bisher Tausende gegenüber, die einen versteckt verteidigend, die anderen offen angreifend. Nun beginnt ein Guerillakrieg. Trupps mit jeweils zweihundert ortskundigen Männern, angeführt von militärisch geschulten Profis wie Dusacq oder Tardivat oder Farmer, sollen den Gegner zermürben und tunlichst dort attackieren, wo er es nicht erwartet, also zum Beispiel per Überfall auf die Laster mit Nachschub oder auf Tankwagen, wo es schon genügt, diese, ohne eigene Leute zu gefährden, durch einen Schuss aus der Panzerfaust in Flammen aufgehen zu lassen.
Soweit die Theorie.
In der Praxis überschätzen viele Maquisards aber ihre Fähigkeiten – und unterschätzen die des Gegners. Major Farmer zum Beispiel hatte die Männer seiner Truppe dringend davor gewarnt, den sicheren Waldrand zu verlassen, weil unsichtbar zwar für sie, aber gut getarnt in der Nähe deutsche MG -Schützen auf solche Gelegenheiten warten und sofort das Feuer eröffnen würden. Er behielt recht. Die Toten, die danach ins Lager getragen werden, sind nicht mehr zu erkennen. Waren es zehn, waren es zwölf, waren es die sieben jungen, kaum zwanzigjährigen Kerle, denen Hélène am Tag zuvor übersetzt hatte, was Lieutenant Dusacq über den richtigen Umgang mit einer Panzerfaust erklärte, zum Beispiel, wie man die schultert vor dem Abschuss? Alle sind gefallen, als sie ins Visier eines deutschen MG gerieten. Auf Anweisung von Gaspard sollen sie im Wald begraben werden. Eine Beerdigung auf einem Friedhof in Saint-Flour oder in Murat wäre lebensgefährlich für alle, die ihnen die letzte Ehre erweisen würden. Friedhöfe werden von den Deutschen observiert.
Also muss jetzt improvisiert werden, um trotz der irdischen Realität ihre letzte Reise einigermaßen würdig zu gestalten. Nancy Wake lässt sich einen Eimer mit Wasser und ein paar Fallschirme bringen, mit denen die Waffencontainer abgeworfen und die nicht verscharrt, sondern gelagert worden waren, um bei Gelegenheit daraus Unterwäsche für die Truppe zu schneidern. Dann reinigt sie die Gesichter der Toten und hüllt sie in die Seide ein. Agentin Hélène will keine Hilfe und will auch nicht gestört werden. Die einzige Frau im Camp der Männer vertritt symbolisch die Mütter, die ihre Söhne verloren haben, die sich nicht von denen verabschieden können, die noch nicht einmal einen Platz für ihre Trauer haben werden, ein Grab, zu dem sie pilgern dürfen. Keiner weiß, wer die Toten waren und woher sie kamen. Eine Identifizierung ist unmöglich. Die Nummern der Armbinden auf ihren ledernen Uniformjacken sind blutverschmiert und nicht mehr zu entziffern.
Als Nancy sie in diese Art von Leichentüchern gewickelt hat, werden sie auf einer Lichtung bestattet und ihre Ruhestätten auf einem Plan notiert. Nach dem Krieg sind sie und andere mithilfe dieser Karte ausgegraben und in allen Ehren, wie es ihnen gebührte, auf Friedhöfen bestattet worden, neben denen, deren Namen auf den vielen Holzkreuzen zu lesen sind. Während sie damals im Wald, eingehüllt in Ballonseide, hergestellt in England, begraben wurden, stimmten die Kameraden ihre nationale Hymne der Freiheit an, die Marseillaise. »Le jour de gloire« war zwar noch nicht »arrivé«, aber lange konnte es jetzt nicht mehr dauern bis zu jenem ruhmreichen Tag, an dem sie den Feind besiegt haben würden.
Davon sind alle überzeugt. Und sie machen sich Mut für den Kampf mit einem anderen Lied, dem bis heute berühmten und bei vielen Veranstaltungen am 14 . Juli, dem französischen Nationalfeiertag, ertönenden Lied der Partisanen, »Le Chant des Partisans«. Gepfiffen war es, bald nachdem es die BBC 1943 erstmalig ausgestrahlt hatte, zum Erkennungszeichen unter
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