Codename Hélène
musste, schließlich bis nach Marseille durchgeschlagen. Der amerikanische Konsul versprach Ersatz für die Papiere, die von der Lagerverwaltung eingeschlossen waren in einem Safe.
Bis dahin engagierte sie sich im Netzwerk Pat O’Leary und wohnte zeitweise in einem der Bordelle der Stadt. Das machten viele Flüchtlinge so. Verraten wurden sie nie. Mitunter passten die Prostituierten auf ihren kleinen Sohn auf, während sich Elisabeth Haden-Guest in der Seemannsmission am Hafen nützlich machte, bis die neuen Papiere eingetroffen waren und sich eine Möglichkeit zur dann legalen Weiterreise nach Portugal bot. Von Lissabon aus wollte sie nach London fliegen. Selbstverständlich half sie auch als Kurierin aus, als Donald Caskie sie darum bat. Als ihr kleiner Sohn erkrankte – Husten, Atemnot, Rachitis –, empfahl er ihr den Arzt in der Rue Bignoles. Der gehöre zum Widerstand, der stelle keine Fragen, der helfe ihr bestimmt. Rodocanachi konnte sich zudem auf seine Sympathisanten in der Nachbarschaft verlassen, die im Notfall so halfen wie er, also ebenfalls keine Fragen stellten. Nancy und Henri Fiocca zum Beispiel. So schloss sich der Kreis, und den hielten sie geschlossen. Ahnten allerdings nicht, dass bereits einer im Kreis war, der ihn zerbrechen würde.
Elisabeth Haden-Guest flog dann legal mit neuen Papieren ausgestattet über Lissabon nach England. Sie wurde in allen Zeitungen mit ihrem Kind auf dem Arm auf Seite eins gefeiert und vom legendären Reporter Ed Murrow für den amerikanischen Rundfunksender CBS interviewt. Ihr Sohn, den Rodocanachi behandelt und geheilt hat, lebt als berühmter Journalist und Schriftsteller heute in New York und London: Anthony Haden-Guest.
Der Mann, der im Hinterzimmer wohnte, hatte andere Pläne. Kleine Fluchten sind okay, aber nötig ist ein Netzwerk für die großen. Das baut Ian Garrow auf. Nach vier Monaten ist es gesponnen Es reicht vom Norden, dann quer durch Frankreich getragen von vielen Helfern in Safe Houses , bis zum Fuß der Pyrenäen. Begehrt sind vom britischen Geheimdienst, der bei der Finanzierung half, vor allem die Piloten der RAF . Die brauchte man dringend für kommende Einsätze. In dieses Netzwerk dringt dann Harold Cole ein. Wichtigster Helfer Garrows wird Pat O’Leary, dessen Name nach einem waschechten Iren klingt. Er hat ihn sich in Wahrheit »entliehen« von einem kanadischen Freund, der davon nichts ahnte. In Wirklichkeit hieß er Albert-Marie Guérisse, war Militärarzt in der belgischen Armee gewesen, nach dem Überfall der Deutschen mit einem Schiff aus Dünkirchen nach England evakuiert und dort ausgebildet worden zu einem Agenten mit besonderen Aufgaben. Auf der »Fidelity« hatte er als erster Offizier und in britischer Uniform den Kanal im April wieder in die andere Richtung überquert. Bereit zum geheimen Einsatz im Feindesland. Das Schiff erlitt einen Motorschaden, wurde aufgebracht, Pat O’Leary, in Uniform als feindlicher Ausländer erkennbar, verhaftet und in einem Lager in der Nähe von Marseille interniert. Ian Garrow musste ihn kurz danach befreien lassen. Das ging damals noch verhältnismäßig einfach.
Von da an teilte Pat O’Leary den Raum mit Ian Garrow. Beide bewegten sich vorsichtig und stets auf Socken. Gemeinsam bauten sie das Netzwerk aus, das beim britischen Geheimdienst dann als »Pat O’Leary Circuit« geführt wurde. Nach und nach entstanden, parallel zur wachsenden Bedeutung von Résistance und Maquis, mehr als hundert solcher Circuits in Frankreich – spezielle Netzwerke für die sichere Unterbringung von alliierten Piloten, deren Flugzeuge abgeschossen wurden, oder um die Flucht für verfolgte Widerstandskämpfer zu organisieren: les reseaux de l’evasion. Andere Netzwerke konzentrierten sich auf das Ausspionieren deutscher Stellungen und auf Kurierdienste im Untergrund, les reseaux de reseignement . Schließlich die Netzwerke der bei Sabotageakten und Attentaten aktiven Kämpfer, les reseaux de l’action. Wer von denen erwischt wurde, den erschossen die Deutschen auf der Stelle und ließen die blutigen Leichen zur Abschreckung liegen.
Was die Geschichte der einst leichtfüßig durchs Leben schwebenden Nancy Wake zu einer besonderen Geschichte macht: Sie war in drei Netzwerken aktiv – als Fluchthelferin, als Kurierin, als Schattenkriegerin. Zeitweise sogar parallel in allen. Ohne Frauen wie sie wäre der Widerstand in Frankreich gescheitert. Ohne Frauen wie sie hätte es die Résistance nicht geschafft, bis
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