Codename Hélène
so gut Französisch, dass er diesen Aperitif akzentfrei bestellen könne.
Jeden Abend kehrte Captain Wilkins zurück ins Fort Saint-Jean. Ein Ehrenwort war für einen britischen Offizier grundsätzlich bindend. Andererseits: Musste man sich in solchen Zeiten an ein solches Wort unter Ehrenmännern auch halten, falls die auf der anderen Seite zwar in Friedenszeiten prinzipiell durchaus Ehrenmänner sein mochten, aber jetzt eben nun mal treue Gefolgsleute der Kollaborateure in Vichy? Und damit nicht nur indirekt, sondern auch konkret bei der Hatz auf Juden, den Razzien gegen Emigranten, den Deportationen von Kommunisten, Freimaurern, Linken in die Lager willige Kumpane der Deutschen? In die Tat umgesetzt, bevor die überhaupt solche Forderungen gestellt hatten? Musste er nicht. Der Meinung waren auch Nancy und Henri Fiocca. Wilkins wäre ja nicht der Erste, der sein Versprechen bricht und verschwindet.
Am Morgen des 8 . Januar 1941 setzten er und einige Offiziere ihre Fluchtpläne in die Tat um. Es war ihre letzte Chance. An dem Tag sollten viele der Internierten per Transportzug ins Gefängnis von Saint-Hippolyte-du-Fort in der Nähe von Nîmes verlegt werden. Auf dem Bahnhof nutzten die Briten eine Unaufmerksamkeit ihrer Bewacher – konnte auch sein, dass die so taten, als würden sie nichts sehen – und türmten. Leslie Wilkins war dabei und Ian Garrow von den Glasgow Highlanders und der Royal-Air-Force-Pilot Lewis Hodges, den alle nur Bob nannten. Einige machten sich direkt auf den Weg zur Grenze, um über die Pyrenäen nach Spanien zu gelangen, andere blieben in Marseille und versteckten sich dort.
Garrow zum Beispiel. Von einem Aufseher in der Zitadelle, wahrscheinlich einem Sympathisanten der Résistance, war ihm eine bestimmte Adresse genannt worden: Appartement 21 , Rue Roux de Bignoles. Da würde man ihm weiterhelfen können. Es war die Anschrift von Doktor Georges Rodocanachi. Der Arzt hatte sich bereits nach de Gaulles Rede dem Widerstand angeschlossen, was im Süden noch nicht so lebensgefährlich war wie im Norden, wo die Deutschen androhten:
»Kriegsgerichtlich geahndet wird: Jede Unterstützung nichtdeutscher Militärpersonen im besetzten Gebiet. Jede Hilfe bei der Flucht von Zivilpersonen in das nicht besetzte Gebiet. Jede Nachrichtenübermittlung an Personen oder Behörden außerhalb des besetzten Gebietes zum Schaden der deutschen Wehrmacht und des Reiches. […] Wer entwichene oder nicht mit Entlassungs- oder Urlaubsschein versehene Kriegsgefangene oder wer Angehörige einer feindlichen Wehrmacht verbirgt oder bei sich beherbergt, wird mit dem Tode bestraft.«
Konnte es Schlimmeres geben als ein Todesurteil?
Eigentlich nicht.
Eigentlich doch.
»Kommunistische Elemente und andere deutschfeindliche Kreise«, zu denen vorrangig die Mitglieder der Résistance zählten, wurden während der Besatzungszeit ohne Pardon zwar zu Tausenden verurteilt und hingerichtet. Doch falls es vor Gericht nicht für ein Todesurteil reichte, sollten die Angeklagten aus ihrem bisherigen Leben verschwinden und nach Deutschland verschleppt werden. Bei Nacht und Nebel, spurlos. Daher der Name »Nacht-und-Nebel-Erlass«. Das würde nach Hitlers Überzeugung, der höchstpersönlich diesen Befehl verfasst hatte, noch abschreckender auf die Unterstützer wirken als ein Todesurteil. Denn nach einer Hinrichtung wurde die Leiche der Familie zur Bestattung überlassen, und die hatte dann zumindest einen Ort für ihre Trauer. In den besetzten Ländern Ostmitteleuropas scherten sich die Deutschen nicht mehr darum, mit einem Urteil einen Anschein von Recht und Gesetz zu wahren. Massenerschießungen waren da längst Alltag.
Französische Familien, die sich nach dem Schicksal ihrer über Nacht verschwundenen Angehörigen erkundigten, sollten keine Auskunft erhalten und fortan mit dem Albtraum leben müssen, nicht zu wissen, ob der Mann, der Sohn, der Bruder, der Vater noch lebte oder in einem deutschen Konzentrationslager ermordet worden war. Rund 7000 Franzosen, Belgier, Holländer, Norweger ließen die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs auf diese Art verschwinden. Löschten ihre Existenz aus, selbst wenn die in Zuchthäusern noch lebten. Es gab sie offiziell einfach nicht mehr. Auf dem Rücken ihrer Gefängniskluft stand NN für »Nacht und Nebel«. Wie viele in diesem Nebel, in dieser Nacht für immer verschwanden, wie viele ermordet und verscharrt worden sind, ist nicht bekannt. Auf einer Gedenktafel im ehemaligen
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