Codename Hélène
in die Wälder. Andere schlossen sich geheimen Gruppen der Kommunisten an, in Klöstern versteckten Nonnen und Patres die Verfolgten. Staatliche Beamte vernichteten Meldekarteien, in denen Religion und Rasse verzeichnet waren. Die Selbstversenkung der französischen Restflotte im Hafen von Toulon und das geglückte Attentat auf François Darlan, Gründer des Generalkommissariats für Judenfragen, Chef der laut Waffenstillstand dem Vichy-Regime erlaubten Restarmee von hunderttausend Mann, stießen auf allgemeine Zustimmung in der Bevölkerung.
Serge Klarsfeld hat seinem Lebenswerk Vichy – Auschwitz. Die Endlösung der Judenfrage in Frankreich sowohl die eine Seite Frankreichs, die dunkle, die der Kollaboration, verdammt als auch die andere, die helle, die in vielen Worten und Taten nachzuweisen ist, gewürdigt:
»Die Juden in Frankreich werden immer in Erinnerung behalten, dass zwar das Vichy-Regime einen moralischen Bankrott erlitten und sich mit Schande bedeckt hat, indem es entscheidend zur Vernichtung eines Viertels der jüdischen Bevölkerung in diesem Land beitrug, dass aber die übrigen drei Viertel ihr Überleben wesentlich dem aufrechten Mitgefühl aller Franzosen verdanken, die von dem Augenblick an ihre praktische Solidarität bewiesen, als sie begriffen, dass jüdische Familien, die den Deutschen in die Hände fielen, zum Tode verurteilt waren.«
Und ebenso die Kämpfer der Résistance, ganz egal, woher sie stammten. Das wussten Nancy Fiocca und ihr Mann. Einer ihrer Nachbarn war Kommissar bei der Gendarmerie Nationale und ein überzeugter Pétainist. Dass er immer wieder bei scheinbar zufälligen Begegnungen im Hausflur Monsieur Fiocca fragte, wo denn Madame sei, er habe sie lange nicht gesehen, hatte das Ehepaar bisher mehr amüsiert als geängstigt. Zu durchsichtig seine Suche nach Nähe. Schließlich war er es, der schon seit Wochen ihr Telefon überwachen ließ. Das Knacken in der Leitung blieb ihnen nicht verborgen. Fernmündlich wurde nur noch Alltägliches besprochen. Die Treffen mit Pat O’Leary oder Louis Nouveau, der mit seiner Frau Renée Hunderte von Flüchtlingen aufgenommen und versteckt hatte, wie er notierte, fanden in ihrer Zweitwohnung statt. Falls dort ein fremder Mann ein und aus ging, wurde der zwar bemerkt. Aber die Concierge hielt den für einen Verehrer von Madame, und deren private Affären in ihrem Liebesnest gingen niemanden was an. Man lebte schließlich in Marseille und nicht in einem bigotten Provinznest.
Nancy und Henri Fiocca ahnten jedoch, dass mit den Deutschen andere Sitten einziehen würden. Wo Gendarmen hin und wieder doch ein Auge zudrückten, würde die Gestapo beide öffnen. Gemeinsam planten sie deshalb ihre Flucht, die aber getrennt, nicht gemeinsam erfolgen sollte. Zunächst sollte Nancy abtauchen, die Wege kannte sie zumindest theoretisch, weil die bei allen Fluchtvorbereitungen für versteckte britische Piloten im Netzwerk diskutiert wurden. Es gab zwei Routen der Pat Line : einmal den Landweg via Toulouse und von dort über die Pyrenäen nach Madrid oder Barcelona und zum anderen, per Fischerboot über Canet-Plage im Süden des Languedoc nahe der spanischen Grenze, den Seeweg nach Gibraltar.
Um ihren Mann abzusichern, falls sie erwischt würde und er automatisch als Mitwisser unter Verdacht geriete oder gar nach den Bestimmungen der Sippenhaft mit dem Tod bestraft werden könnte, hinterließ sie inzwischen vor jedem Einsatz als Kurierin oder wie bei der Befreiung Ian Garrows einen ganz privaten Abschiedsbrief, der ihn im Falle ihres Falles schützen sollte. Bei den Formulierungen half Henri Fiocca. Das Leben an seiner Seite in Marseille sei ihr, formulierten beide, zu langweilig geworden und er, bei aller Liebe, eben doch zu alt für sie. Sie wolle sich von ihm trennen und zurückkehren in die Stadt ihrer Sehnsucht, nach Paris. Dort ließen die Deutschen ihre französischen Marionetten zwar nach ihrer Pfeife tanzen, aber immerhin: Sie ließen sie noch tanzen. Im übertragenen Sinne. Denn öffentliche Tanzveranstaltungen waren schon längst verboten. Kinos und Theater und Konzertsäle aber waren stets ausverkauft. Auch Feldgraue füllten die Ränge.
Die Deutschen zeigten ihr lachendes Gesicht und täuschten dem Erbfeind vor, Freunde fürs Leben zu sein. Das war nicht nur eine politische Strategie, ausgedacht im Berliner Propagandaministerium. Tatsächlich glaubten deutsche Offiziere, die einst in Frankreich studiert und gearbeitet und geliebt hatten,
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