Codename Hélène
verhalten. Ihr habt die Abwesenden ernährt, die leider als Gefangene oder Zwangsverpflichtete in Deutschland sind. Ihr habt die Verantwortung für Unternehmen übernommen, denen Krieg, Verfolgung oder Tod ihre Leitung entrissen haben. Ihr habt die Felder bestellt, ihr habt in den Fabriken gearbeitet, dabei eure Kinder großgezogen und euch um die Alten gekümmert, und das alles unter unsäglichen materiellen Umständen. Ihr habt den Patrioten geholfen, habt sie ermutigt, habt sie versteckt, habt sie versorgt. […]. Die Neue Republik wird dies anerkennen. Sie wird für die Abschaffung überholter Gesetze kämpfen, die euch im Vergleich zu den Rechten und Freiheiten von Frauen in anderen Ländern der Welt in einem altmodischen Status der Minderwertigkeit halten wollen. […].«
Die »Endlösung der Judenfrage«, wie das im Jargon der Mörder genannt wurde, die Vernichtung der europäischen Juden, im Januar 1942 bei der Wannsee-Konferenz beschlossen, setzte Oberg getreu der Befehle von Heydrich und Himmler in Frankreich um. Einer der schlimmsten Schreibtischtäter, Werner Best, studierter Jurist, lange bei SS und SD sowie im Reichssicherheitshauptamt in führenden Funktionen tätig und einer der wesentlichen Theoretiker der jetzt arbeitenden Vernichtungsmaschinerie, half dabei. Von Paris aus wurde er nach 1942 ins besetzte Dänemark abkommandiert. Dort wehrten sich die Anständigen gegen die Deportation ihrer jüdischen Mitbürger erfolgreich, im Gegensatz zu Frankreich. Judenhasser Best scheiterte. Nach Kriegsende kam er mit einer lächerlichen Haftstrafe davon. Die Franzosen wollten ihn nicht haben. Er kannte zu viele Namen der Kollaborateure. Im Zivilleben arbeitete er in der Kanzlei eines anderen furchtbaren deutschen Schreibtischtäters aus jener Zeit in Paris, Ernst Achenbach, damals Gesandtschaftsrat, in der jungen Bundesrepublik Abgeordneter der FDP im Deutschen Bundestag und als Jurist aktiver Helfer gesuchter Nazis.
Oberg war von Himmler und Heydrich angewiesen worden, hunderttausend Juden aus Frankreich für die Gasöfen zu liefern. Das Wort »liefern« wurde benutzt, als handelte es sich um eine Lieferung von Knöpfen statt einer von Köpfen. Diese »Bestellung« wollte er abliefern. Mithilfe der Vichy-Polizei, so wie bisher schon oft erfolgreich in den besetzten Gebieten praktiziert. Unter seinem Oberbefehl standen inzwischen ja nicht nur SD (Sicherheitsdienst) und Sipo (Sicherheitspolizei) und Gestapo, sondern auch die Geheime Feldpolizei. Mehr als zweitausendvierhundert Mann allerdings waren das nicht. Ohne die tätige Mithilfe der Gendarmerie Nationale konnte er seinen Auftrag nicht erfüllen.
Doch jetzt, spät, endlich wuchs auch in der Polizei Widerstand. Bisher hatten die meisten Gendarmen in williger Vollstreckung der ihnen erteilten Befehle alle staatenlosen Juden festgenommen und in Lager gebracht, beispielsweise nach Drancy, von wo aus die Züge in den Tod fuhren. Nun sollte es gebürtige Franzosen treffen. Mitbürger. Nachbarn. Auch die katholische Kirche, deren Hierarchen im Gegensatz zu vielen kleinen Geistlichen, die im Untergrund den Verfolgten halfen, bis zu diesem Zeitpunkt treu aufseiten Pétains gestanden waren und schweigend hingenommen hatten, wie Menschen- und Bürgerrechte entleibt wurden, verkündete jetzt von den Kanzeln herunter ihr »J’accuse«.
Zum Beispiel Monsignore Pierre-Marie Théas, der Bischof von Montauban, in einem Hirtenbrief, der in allen Kirchen seiner Diözese verlesen wurde:
»Schmerzliche Szenen, wahrhaft grauenhaft, spielen sich in Frankreich ab, ohne dass Frankreich dafür verantwortlich ist. In Paris wurden Zehntausende von Juden auf barbarische Art behandelt, und in unserer Gegend haben sich herzzerreißende Dramen abgespielt: Familien wurden aufgelöst, Männer und Frauen wurden behandelt wie eine Viehherde. […] Ich spreche hiermit entrüstet den Protest des christlichen Gewissens aus, und ich erkläre, dass alle arischen und nichtarischen Menschen Brüder sind, weil sie von demselben Gotte geschaffen worden sind, und dass alle Menschen, welcher Rasse und Religion sie auch angehören, ein Anrecht auf Achtung durch den Einzelnen wie auch durch den Staat haben. Die gegenwärtigen antisemitischen Maßnahmen bedeuten eine Verachtung der Menschenwürde, eine Verletzung der heiligsten Rechte der Person und der Familie.«
Proteste wie dieser Hirtenbrief hatten Folgen. Katholische Gendarmen verweigerten sich den Befehlen ihrer Vorgesetzten und tauchten ab
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