Codename Hélène
Der Gendarm geht an ihnen vorbei zum Ausgang. Sich öffentlich küssende Liebespaare sind nichts Besonderes. Die gehören in Frankreich quasi zum Straßenbild. Und fallen deshalb nicht weiter auf. Nancy löst sich von ihrem One-Minute-Stand. Er ist außer Atem. Sie auch. Aber sie nimmt ihm sofort jede Hoffnung auf eine mögliche Fortsetzung, indem sie die überlebenswichtige Einmaligkeit des Kusses erklärt. Sie verlassen den Bahnhof. Züge werden überwacht. Zu gefährlich.
Von der ursprünglichen Gruppe, die in Toulouse aufgebrochen war, sind nicht mehr alle dabei. Einige wurden bereits bei der überstürzten Flucht aus dem Zug von den Deutschen verhaftet, andere hatten sich entschlossen, die Flucht über Route zwei zu versuchen, den Seeweg. Stattdessen wollen sich jetzt über die Pyrenäen vier andere anschließen, die ebenfalls in Nizza in dem Safe House des Netzwerks untergetaucht waren. Zwei amerikanische Piloten, ein Offizier aus Neuseeland, ein Franzose. Wo es langgeht, wird ihr spanischer Führer bestimmen, denn nur er kennt die Wege über die Berge. Wie man sich unterwegs zu verhalten hat, bestimmt Lucienne Suzanne Carlier. Sie ist die Einzige, die bereits Erfahrungen hat in Gefahr und Not, also in Situationen wie diesen. Dass sie sich dabei nicht auf Diskussionen einlässt, sondern sich zur Not gegen Männer auch auf brachiale Art durchzusetzen weiß, wird sie bald beweisen.
Zunächst geht es nachts Richtung militärisches Sperrgebiet. Zu Fuß über die Felder bis nach Ceret, etwa zwanzig Kilometer von der Grenze entfernt. Von dort aus fahren regelmäßig Güterzüge, die Kohle transportieren. Mit denen sind oft schon Flüchtlinge bis an den Rand der Pyrenäen gelangt. Für genau diesen Fluchtweg war der Mann, bei dem Nancy in Nizza geklingelt hatte, im Netzwerk verantwortlich.
In den Loren des Güterzugs liegen leere Kohlesäcke. Gefüllt werden die erst auf der Rückfahrt. Die Güter, die sich am nächsten Morgen unter die Säcke legen und sich während der Fahrt verbergen in der Hoffnung, dass unterwegs auf der Strecke keine intensiven Kontrollen stattfinden, halten nur immer dann die Luft an, wenn auch der Zug anhält und sie draußen Stimmen hören. Keiner entdeckt sie. Tatsächlich warten, wie versprochen, bei einem Halt auf einem Nebengleis ein Mann und eine Frau, die von nun an die Führung übernehmen werden. Zuerst nehmen sie ihnen die Schuhe weg, um keine Abdrücke zu hinterlassen, denen mögliche Verfolger mit ihren Spürhunden folgen könnten. Alle bekommen stattdessen Espadrilles, die traditionellen leichten spanischen Leinensandalen. In denen geht man erstens auf leisen Sohlen, und zweitens sind die bei der Landbevölkerung hier üblich, also sichtbar unauffällig.
Dann beginnt der Marsch durch das Albères-Massiv. Alle zwei Stunden, ordnen die beiden Spanier an, zehn Minuten Pause, nie länger. In drei Tagen soll der Fluss – War es der Tech? Der Fluvià? Nancy Wake konnte sich nicht mehr erinnern, als sie Jahre später ihre Autobiografie schrieb – auf der anderen Seite der Hügel erreicht werden. Der Erste, der sich über die Strapazen beklagt und statt der zehn Minuten mehrere Stunden Pause verlangt, ist einer der beiden Amerikaner. Madame Carlier kümmert sich um ihn. Falls er nicht endlich zu jammern aufhöre, sagt sie ihm, könnte es durchaus passieren, dass er bei der nächstmöglichen Klippe von hinten einen Stoß bekäme, und dann hätte er endlich seine Ruhe. Für immer. Danach war er ruhig.
Den Fluss durchqueren sie nachts schwimmend. Inzwischen ist es Mai, und die Nächte hier unten im Tal sind warm und nicht mehr so kalt wie oben auf den Bergen, wo sie von einem Schneesturm überrascht worden waren. Ihre Führer bringen sie zu einem Bauernhof, dessen Besitzer für alle Flüchtigen, die über diesen Weg nach Spanien kommen, erste Anlaufstation ist. Dort trocknen sie ihre Kleidung, bekommen ein warmes Essen, können sich endlich mal wieder waschen und in einem Heuschober ausschlafen. Geweckt allerdings werden sie nicht morgens von der Sonne, sondern nachts von Schüssen und Gebrüll. Spanische Polizisten auf der Suche nach Schmugglern haben das Gehöft umstellt. Dass sie allesamt Amerikaner seien, wie sie denen versuchen zu erklären, stößt auf wenig Interesse. Diese Fremden, die sie abführen, benehmen sich allerdings so verrückt, wie man es ganz allgemein immer wieder gehört hatte über Amerikaner. Singen irgendwelche Lieder in einer Sprache, die sie nicht verstehen,
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