Codename Hélène
setzen sich plötzlich mitten auf die Straße, weigern sich, weiterzugehen, wenn sie nicht was zu trinken bekommen würden. Sie setzen sich im wahrsten Sinne des Wortes durch.
Wieder mal, wie schon in Toulouse, blufft Nancy Fiocca, als sie in der Polizeistation des kleinen Ortes Besalú – nach Urin und Scheiße stinkende Zellen, nichts zu essen, nichts zu trinken – verhört werden soll. Sie spricht nur Englisch. Ihr Name sei Nancy Farmer, amerikanische Staatsbürgerin. Andere Sprachen außer Englisch verstehe sie nicht. Man holt den Schneider des Ortes, der Englisch kann, er soll dolmetschen. Weil sie ihm spontan nicht traut, so wie sie spontan Cole schon beim ersten Anblick nicht getraut hatte damals in Marseille, vertraut sie ihm an, dass es großen Ärger gäbe für die Verantwortlichen, spätestens dann, wenn sie überführt werden würden nach Gerona und sobald sie nach ihrer Freilassung einem amerikanischen Diplomaten berichten würden, wie schlecht sie behandelt worden waren. Er möge den Spaniern hier und heute aber nichts davon sagen. Was der natürlich umgehend tat. Schlagartig änderte sich die Behandlung. Sie bekamen alle etwas zu essen und zu trinken, und für den Transport nach Gerona, wo sie vor Gericht zu erscheinen hatten wegen illegalen Grenzübertritts, stand diesmal ein Bus bereit.
Die Urteile lassen sie nicht nur kalt, sondern diese auch vom britischen Vizekonsul bezahlen. Von Pat wusste sie, dass die britische Regierung für jeden Piloten, dem zur Flucht verholfen wird, bisher 20 0 00 Pfund ausgegeben hat. Deren Ausbildung war teuer, und die brauchte man für künftige Einsätze. Die 1000 Pfund Strafe, mit denen der Richter ihr Vergehen quittiert, sind damit verglichen Peanuts. Hat sie nicht zwei Amerikaner und einen Neuseeländer mitgebracht, Verbündete der Briten? Eben.
In ihren Erinnerungen machte Nancy Wake keine Angaben darüber, ob und – falls ja – wie viel Geld sie noch besaß oder sich für die Weiterreise, nunmehr bequem im Zug und nicht zu Fuß bei Nacht über Berge, geliehen hat. Nächste Station ist Barcelona, von wo aus sie Donald Darling in Gibraltar über die geglückte Flucht informiert, den dort tätigen Verbindungsmann des Pat-O’Leary-Netzwerks zum britischen Geheimdienst. Außerdem schrieb sie eine harmlose Postkarte mit angeblichen Grüßen seiner Cousine an den spanischen Barmann des Restaurants »Verduns«, in dem Henri und sie in guten Zeiten so oft gegessen und getrunken haben. Der würde wissen, wer ihm da in Wahrheit verschlüsselt aufträgt, Henri Fiocca über die geglückte Flucht seiner Frau zu informieren.
Denn inzwischen waren vier, fast fünf Monate vergangen, seit sie Marseille verlassen hat. Das Letzte, was ihr Mann indirekt von ihr hörte, war jener Anruf des Kommissars aus Toulouse, der sich erkundigte, ob die von ihnen verhaftete Frau seine Gattin Nancy Fiocca sei. Er hatte, wie mit ihr abgemacht, vorgegeben, nicht zu wissen, wo die sich aufhielt, wahrscheinlich sei sie in Paris. Jetzt würde er vom Barkeeper erfahren, dass Nancy lebt und wo sie ist, und könnte, wie ebenfalls zwischen ihnen abgemacht, mit seinen eigenen Fluchtvorbereitungen beginnen.
Für seine Frau vergehen erneut Wochen des Wartens und des erzwungenen Nichtstuns. Zunächst in Madrid, dann auf Gibraltar. Nancy Fiocca, die nur noch einen Pass auf den Namen Lucienne Suzanne Carlier besitzt, muss warten, bis Donald Darling eine sichere Schiffsreise nach England arrangieren kann. Er leitet auf der unter britischer Hoheit stehenden Halbinsel offiziell das Evasion Office , das Fluchthilfebüro. Gegen Angriffe der Deutschen ist Gibraltar mit 15 0 00 Soldaten und schweren Geschützen zur Festung ausgebaut worden. Doch die Deutschen kamen nie. Jetzt, im Sommer 1943 , sind sie schon nicht mehr in der Lage für eine solche militärische Operation. Um Nancy soll sich bis zu ihrer Abreise Darlings Assistent Ron Anderson kümmern. »I liked him immediately« – ich mochte ihn sofort, schreibt sie. Mehr nicht.
Aber nicht nur wegen dieser nicht näher beschriebenen aufgeflammten Nähe fährt das nächste Schiff ohne sie ab. Auf dem herrschte Alkoholverbot, es war ein sogenanntes amerikanisches dry ship . Für Nancy eine schreckliche Vorstellung – dry ! Weil sie immer schon viel vertragen konnte, trank sie schon immer viel. Ihre Leber war das gewöhnt. Die hielt zu ihr. Das letztlich ausgewählte Schiff war ein britisches, und an Bord gab es eine Bar, an der selbstverständlich Whisky
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