Codename Hélène

dem Codenamen Hélène geführt, bei der Résistance ist sie per Funkspruch angekündigt als Mademoiselle Andrée. Alle sitzen noch einmal gemeinsam vor einer großen Schiefertafel, auf der die wesentlichen Verhaltensregeln aufgelistet sind, die ihnen Captain Walker noch ein letztes Mal einbläut:
    Vergesst nicht, die Mullbinden um die Füße zu wickeln. Dämpft den Aufprall auf dem Boden bei der Landung. Vergesst nicht, ein Testament zu hinterlassen und Briefe an Eltern oder Geschwister oder Freunde für den Fall, dass ihr nicht zurückkehren werdet. Trefft euch nie mit anderen Agenten in Cafés, denn da gibt es keine Fluchtmöglichkeiten. Verabredet ein bestimmtes Zeichen wie geschlossene oder geöffnete Gardinen bei jedem safe house , das euch signalisiert: Alles okay, oder: Achtung, die Gestapo lauert hinter der Tür. Haltet eure Funksprüche so kurz wie nur irgendwie möglich. Nennt dabei nie Namen und Orte. Vergesst nicht, welche Pille für welchen Fall gedacht ist: A-Tabletten, falls es euch im Flugzeug schlecht werden sollte. B-Tabletten, Benzedin, um euch wachzuhalten. E-Pillen, um einen Gegner für Minuten auszuschalten, was für eure Flucht reichen muss. K-Pillen, aufgelöst geschmacksneutral in einem Getränk, lassen eure Feinde in Tiefschlaf verfallen. Und so weiter.
    Über die Mitnahme der L-Tablets, die lethal tablets , kleine, runde, mit Zyankali gefüllte Kügelchen, sollen alle Agenten in Einzelgesprächen mit einem Arzt, der ihnen die Wirkung erläutert – schmerzfreier Tod nach dreißig Sekunden garantiert –, selbst entscheiden. Die gehören nicht zum vorgeschriebenen Inhalt der Survival Kits. Zyankali ist für Frauen eingearbeitet worden in Lippenstifte, für Männer in Korken, die sich aufschrauben lassen. Nancy Wake lehnt ab, behält ihren eigenen, den echten Lippenstift. Sie wird sich nicht fangen lassen. Daran glaubt sie. Mit dieser Entscheidung für ein Leben unter allen Umständen, und sei es auch, dass sie sich dann die letzte Freiheit nicht selbst wird nehmen können, ist sie keine Ausnahme unter den Frauen, die von der SOE in die besetzten Länder geschickt werden. Viele lehnen das ab. Nicht etwa nur aus unbeugsamer Lebenslust, denn sie machen sich keine Illusionen darüber, was ihnen widerfährt, sobald sie auffliegen. Sondern aus kühler Überlegung. Auch die Deutschen dürften wahrscheinlich schon wissen, was in Lippenstiften oder Korken versteckt sein könnte. Falls sie Zyankalipillen fänden, hätten sie den Beweis, nach dem sie suchten.
    Schneider von SOE haben sich um das äußere Erscheinungsbild der Agenten gekümmert. Das ist für sie Routine. Das machen sie in der Station XVA , 56 Queens Gate London, wo die Werkstatt untergebracht war, vor allen Einsätzen bei allen so. Aus Blusen und Hemden und Socken und Unterwäsche entfernen sie alle Hinweise darauf, in welcher Firma sie hergestellt worden sind, für Röcke, Anzüge, Hosen, Mäntel werden Stoffe zunächst von neu auf alt präpariert, dann passend für die jeweiligen Kunden zurechtgeschnitten. Die unveränderbaren Maße der 31 -jährigen Agentin Hélène, festgehalten bereits nach der Dienstverpflichtung Nancy Wakes: außen von der Hüfte bis zum Fuß gemessen 106 Zentimeter lang, innen vom Schritt bis an die Knöchel vermessene 76 .
    Knöpfe wechseln die Seite, werden versetzt, weil Citoyens anders knöpfen als Citizens und ein Knopf auf der falschen, der britischen Seite auffallen könnte. Schuhmacher überprüfen die Fußbekleidung, denn selbstverständlich musste es eine französische Marke sein. In den Depots haben sie alle Sorten, Größen, Farben vorrätig. Die Profis vom Innendienst exerzieren mit den Agenten Stück für Stück den üblichen Inhalt der Kits durch: Taschenlampe, Landkarte, Messer, Erste-Hilfe-Schatulle, Schaufel (um den Fallschirm nach dem Absprung einzugraben), Neun-Millimeter-Welrod. Sie war nach Auskunft aller Kandidaten die beliebteste Waffe im Schattenkrieg, auch Colt 32 Automatic und vor allem die Silent Sten , eine Maschinenpistole mit Schalldämpfer, zählten zu den Favoriten.
    Selbst die Packer sind stolz auf das, was sie können. Auch sie haben einen Corpsgeist entwickelt. Auch sie empfinden sich als Verteidiger des Vaterlands. Auch sie gehören zur großen Schattenarmee. Es ist keine erfundene, sondern eine gute Geschichte, dass es ihnen einmal sogar gelungen ist, zweihundert Glasröhrchen mit Tinte, benötigt für den Druck der Untergrundpresse in Frankreich, so geschickt zu verpacken,