Codename Hélène
wo er ist und ob er überhaupt noch lebt, entscheiden sich Nancy Wake und John Farmer, die Nacht nicht in einem ihnen angebotenen sicheren Haus zu verbringen, sondern zu ihrer eigenen Sicherheit lieber in einem nahen Forst. Abwechselnd halten sie Wache. In England wartet immer noch, und immer noch vergebens, die Nachtschicht der Funkerinnen auf eine Nachricht aus Frankreich, ob bisher alles auch so verlaufen sei wie von SOE geplant und die Geldübergabe an Gaspard stattgefunden habe.
Am nächsten Morgen – das dürfte der 1 . Mai 1944 gewesen sein – brachten sie zwei von Gaspards Leutnants, Codenamen Judex und Prince, zu einem kleinen Schloss etwa fünfzehn Kilometer entfernt, in der Nähe von Saint-Flour, das dessen Besitzer dem Maquis überlassen hatte. Das Hauptquartier von Gaspard. Erneut mussten sie warten. Eine Woche lang geschah nichts. Keine Funkverbindung nach London. Vom dritten Mann des Netzwerks Freelance nach wie vor keine Spur. War Denis abgestürzt oder festgenommen worden? Wurde er längst schon wie Hector von der Gestapo verhört? War er bereits erschossen worden als britischer Spion? Oder war lediglich sein Start in England um ein paar Tage verschoben worden?
Sein Abflug hatte sich tatsächlich verzögert wegen schlechter Wetterverhältnisse, er erreichte die Küste Frankreichs erst in der Nacht vom 9 . auf den 10 . Mai, wie sich anhand der Aufzeichnungen Secret RAF Landings in France 1940 – 1944 belegen lässt, also zehn Tage nach Hélène und Hubert. Aber dann hatte er eigenen Trieben folgend ja noch ein paar Nächte drangehängt bis zu seiner tatsächlichen Ankunft. Nancy Wake und John Farmer ahnten das natürlich nicht.
Sie selbst gerieten sogar bei den Verbündeten unter Verdacht, ausgerechnet bei denen, für die sie ihr Leben riskiert hatten. Zu viel war seit ihrer Landung schiefgegangen. Ihr Funker verschollen sowie Hector und dessen Funker von der Gestapo verhaftet. Das hielten die Franzosen nicht für einen Zufall. Es roch ihnen nach Verrat. Was Farmer in seinem Bericht nur zwischen den Zeilen anklingen ließ: »they did not know anything about us and we therefore were treated with suspicion« – sie wussten nichts über uns und behandelten uns deshalb misstrauisch. Zwar sagte ihnen das keiner, aber es war immerhin die Erklärung dafür, dass sie nie ohne Begleitung blieben, sobald sie sich auch nur ein paar Schritte vom Château entfernten. Nancy Wake verschwieg es in ihren Memoiren, frei von Vorschriften der Geheimhaltung, allerdings nicht.
Denn als sie den legendären Colonel Gaspard endlich zu Gesicht bekamen, nahm der nicht etwa dankbar die Millionen in Empfang und freute sich über die aus London gesandte Unterstützung, sondern stellte sie quasi unter Hausarrest bis zur endgültigen Klärung ihrer Identität. Hector hätte für sie bürgen können, aber der saß in einem Gestapo-Keller, und Denis Rake, mit dessen Funkgerät sie London hätten informieren können, damit die Einsatzleitung dort alles klärt, hatte noch immer Besseres im Sinn. Nancy war not amused über Denis, weil er ihre Lage verschlechterte: »The fact that our wireless operator chose to spend some time with a friend before joining us did not diminish our problems.«
In der Tat. Es verringerte nicht ihre Probleme, dass ihr Funker lieber Zeit mit einem Freund verbrachte, statt sich ihnen anzuschließen, es vergrößerte sie. Hélène wurde das besonders bewusst, als sie eine Diskussion von Gaspard und seinen Männern belauschte. Die saßen zusammen in der großen Küche des Schlosses, wo es wie in allen Räumen einen Kamin gab, dessen Entlüftung bis nach oben unters Dach führte. Deshalb konnte sie alles hören, was unten gesprochen wurde. Dass sie perfekt Französisch sprach und entsprechend die Unterhaltung verstand, wussten die ja noch nicht. Für die Männer war sie eine aus England geschickte Agentin, bei ihnen zwar als Mademoiselle Andrée angekündigt, aber das war ja nur ein Deckname. Es ging bei Tisch darum, ob man ihr trauen durfte oder besser gleich beide Briten umbringen sollte, sich zumindest aber der jungen Frau entledigen musste, weil Frauen im Kampf bekanntlich unnütz waren. Das Frauenbild der Maquisards war dem der Pétainisten gleichgesinnt reaktionär.Von Gleichberechtigung hielten in beiden feindlichen Lagern die Männer gleich wenig.
Agentin Hélène entsicherte vorsichtshalber ihren Revolver und informierte Agent Hubert. Sie verbarrikadierten ihre Türen. Aber nichts passierte in
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