Codename Hélène
jener Nacht. Am nächsten Morgen teilte ihnen der Colonel nur kühl mit, man werde sie jetzt zu einem lokalen Chef des Maquis bringen, er bleibe hier und warte auf die ihm versprochene militärische Luftbrücke der Engländer und der Amerikaner. Angeblich Hunderte von Containern mit Waffen. Die er dringend brauchte. Mit Hubert und vor allem mit Andrée könne er hier nichts anfangen.
Ein paar Wochen danach, als sie während der legendären Schlachten auf dem Mont Mouchet im wahrsten Sinne des Wortes zu brothers and sisters in arms geworden waren, versicherte er ihr lachend, sie hätten sich damals in der Küche nur einen Scherz erlaubt, weil sie wussten, dass Andrée alles mithören würde. Und natürlich hätten sie gewusst, dass sie Französisch so gut sprach wie sie. Madame Fiocca glaubte ihm kein Wort, musste sich da aber bereits nicht mehr für irgendeine Art oder Eigenart rechtfertigen oder gar dafür, dass sie sich in der Macho-Welt des Maquis als den Männern Gleichberechtigte bewegte.
Da hatte sie längst die Kerle mit ihrem Mut beeindruckt und für sich gewonnen durch ihre Taten, nicht wegen ihrer trotz unförmiger Hosen und Stiefel spürbar sinnlichen Ausstrahlung. SOE -Agent Francis Cammaerts, Chef des Netzwerks Jockey im Rhônetal, drückte sich zwar einigermaßen gewählt aus, als er sie beschrieb – »The sexiest woman it has ever been my privilege and pleasure to know« –, aber er meinte es schon so, wie es zwischen den Zeilen zu lesen war: Nancy Wake war umwerfend sexy, und es war ihm nicht nur eine Ehre, sie kennen zu dürfen, sondern ein Vergnügen. Wie das zu interpretieren war, erläuterte er als Gentleman selbstverständlich nicht näher. Maquisard Henri Tardivat ließ dagegen keinen Zweifel daran, was ihn eigentlich faszinierte an Nancy Wake. In der Tat sei sie eine schöne Frau, aber sobald es ernst werde, kämpfe sie wie fünf Kerle.
Der örtliche Maquis-Kommandant Henri Fournier, im Zivilleben Hotelier, zu dem Gaspard Nancy Wake und John Farmer hat bringen lassen, weiß offensichtlich auch nichts mit ihnen anzufangen. Er braucht nicht sie, sondern Waffen – Stens und Gewehre und Handgranaten und vor allem Panzerfäuste, Bazookas, um Panzerverbände der Deutschen wirksam bekämpfen zu können. Erst am 15 . Mai trifft Roland mit dem Funkgerät ein. Erschöpft, aber unverletzt. Alex hat ihn durch sein Netzwerk in die Auvergne nach Chaudes-Aigues geschleust. Endlich kann konkret mit der Arbeit begonnen werden, »to our great delight«, wie es John Farmer ausdrückte, »we were able to get down to work«. Beide erwähnten nicht, ob sie Roland Vorwürfe machten, was angebracht gewesen wäre, denn immerhin hatten sie wertvolle Zeit verloren. Vielleicht wussten sie aber auch einfach zu viel von seinem Vorleben, um sich über sein aktuelles Verhalten aufzuregen.
Und noch herrschte ja eine, wenn auch gespannte, Ruhe vor dem Sturm. Der sollte allerdings bald losbrechen. Gaspard vermutete, dass sich die Deutschen auf den Angriff vorbereiteten, hochgerüstet und mit Eliteeinheiten der SS . Deshalb drängte er vehement darauf, dass endlich die versprochenen Waffen geliefert würden. Rolands besondere Fähigkeiten brauchen sie jetzt also dringend. Keine Zeit für Vorhaltungen. Ein Funkspruch, den er aufnimmt, kündigt die so sehnlich erwartete Hilfe an. Zwei Felder im felsigen Margeride-Massiv waren bereits für den Abwurf ausgewählt, deren Koordinaten gibt er durch. Einmal unter dem Codenamen Gene Tunney, einmal als Plongeon, eines in der Nähe des Ortes Condat, das andere auf einer Lichtung inmitten der dichten Wälder am Mont Mouchet. In denen hielten sich Gaspards Kämpfer versteckt. Für den Maquis ein ideales Gelände. Von unten führten nur wenige Straßen und Wege auf das Plateau in 1465 Meter Höhe, diese Zugänge riegelten sie ab. Sie waren zwar ortskundig, ein Vorteil gegenüber den Deutschen, aber schlecht bewaffnet. Falls die angriffen, bevor sie Verstärkung bekamen aus der Luft, hatten sie keine Chance. Das wussten sie.
Doch bis zur versprochenen Lieferung dürften nach Gaspards Überzeugung nur noch wenige Tage vergehen. Wenn die Waffen erst mal da waren, musste er alle verfügbaren Kräfte bereits versammelt haben, um sie umgehend an seine Männer zu verteilen. Also rief er am 20 . Mai 1944 unter dem Schlachtruf »Au Mois, Auvergne« eine Generalmobilmachung des Maquis aus, die den Ton einer Schicksalssymphonie anschlägt: »L’armeé de la Libération est maintenant constituée
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