Codename Merlin - 3
bloß stand er nun vor der schweigenden Menschenmenge, die wie gebannt zum Podest hinaufblickte. Dann zerrten sie ihn zu den Folterwerkzeugen hinüber, die schon bereitgelegt waren.
Die Näherin, die nur als ›Ailysa‹ bezeichnet wurde, presste beide Hände vor ihre zitternden Lippen, als sie mit ansehen musste, wie die Scharfrichter den kraftlosen Körper ihres Opfers auf die Streckbank schnallten. Sie weinte so bitterlich, dass sie kaum noch etwas sehen konnte, doch ihr Schluchzen war lautlos. Was sie hier sehen musste, war zu entsetzlich, drang zu tief in ihre Seele ein, als dass sie ihr Leid mit anderen hätte teilen können.
Sie hörte den ersten, tiefen Schmerzenslaut des ehemaligen Erzbischofs, wusste genau, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis aus dem Stöhnen haltloses Schreien werden würde, und selbst jetzt noch konnte sie kaum glauben, was er getan und was er gesagt hatte.
Trotz all dem, was sie zu Ahnzhelyk gesagt hatte, gab es doch nichts, was Ailysa nun lieber getan hätte, als diesen Platz des Schreckens zu verlassen. Eines Schreckens, der nur noch schlimmer wurde durch diese letzte Geste in Erayk Dynnys’ Leben.
Aber sie konnte nicht gehen. Sie durfte es nicht. Sie musste bis ganz zum Ende hier bleiben, und sie würde, genau, wie sie es Ahnzhelyk gesagt hatte, auch wissen, was sie ihren Söhnen zu berichten hatte. Seinen Söhnen.
Söhne, dachte sie, die sich niemals für den Namen würden schämen müssen, den sie trugen. Nicht jetzt − niemals. Nach dem, was gerade eben hier geschehen war und weiter geschehen sollte, würden sie sich niemals schämen müssen.
Zum ersten Mal in viel zu vielen Jahren empfand die Näherin namens Ailysa tiefen, unbändigen Stolz auf den Mann, den sie einst geehelicht hatte und dessen qualvoller Tod nun Zeugnis für ihre Söhne und für die Geschichte selbst ablegen würde.
.IX.
Im Saal des Hohen Rates, Palast von Königin Sharleyan, Stadt Cherayth, Königreich Chisholm
Die Spannung im Ratssaal war unverkennbar, als Königin Sharleyan und Baron Green Mountain eintraten.
Dafür gab es gleich mehrere Gründe. Zum einen wusste jedes Mitglied des Rates der Königin, dass der Erste Ratgeber von Charis seit mehr als zweieinhalb Fünftagen Ehrengast im Palast war − trotz der unbedeutenden Kleinigkeit, dass diese beiden Königreiche sich formal immer noch im Kriegszustand befanden. Zweitens hatte es die Monarchin des Reiches nicht für erforderlich erachtet, irgendjemandem − außer möglicherweise Green Mountain − genau zu berichten, was sie und der Erste Ratgeber von Charis eigentlich miteinander zu besprechen hatten. Drittens hatte sie die gebieterische Forderung seitens Bischof-Vollstrecker Wushai Tiang, Gray Harbor im Namen der Ritter der Tempel-Lande in Gewahrsam zu nehmen und an ihn auszuliefern, höflich aber bestimmt zurückgewiesen. Und viertens … viertens hatte sich die schlanke, dunkelhaarige Königin entschieden, zu dieser Sitzung nicht nur ihr schlichtes Diadem anzulegen, sondern die hochherrschaftliche Krone von Chisholm.
Sharleyan war sich der Anspannung, die hier herrschte, voll und ganz bewusst. Genau das hatte sie erwartet, und in mancherlei Hinsicht hatte sie genau diese Anspannung selbst geschürt. Schon vor vielen Jahren hatte sie, unter Green Mountains sorgfältiger Anleitung, in Erfahrung gebracht, dass Politik mindestens zur Hälfte eine Frage angemessener Staatsführung war. Und je höher der Einsatz, um den es ging, desto wichtiger wurde eben jene Staatsführung.
Vor allem jetzt, wo Onkel Byrtrym hier sitzt, dachte sie unglücklich, während sie gemessenen Schrittes zu dem kunstvoll beschnitzten Sessel am Kopfende des großen, ovalen Ratstisches hinüberging. Kurz gestattete sie sich einen Blick zu Byrtrym Waistyn, Herzog Halbrook Hollow, dem Oberbefehlshaber der Königlichen Armee … und dem einzigen Bruder ihrer Mutter.
Sharleyan ließ sich in den Sessel sinken, drehte kurz den Kopf zur Seite und warf dem Mann mittleren Alters mit der grünen Soutane und der braunen priesterlichen Kopfbedeckung mit der Kokarde eines Oberpriesters einen scharfen Blick zu.
Nur wenige Monate nach Sharleyans Thronbesteigung war Carlsyn Raiyz zu ihrem Beichtvater geworden. Sie hatte ihn sich zwar nicht persönlich ausgesucht − das hatte man ihr aufgrund ihrer Jugendlichkeit nicht zugestanden −, doch er hatte die mit dieser Aufgabe einhergehenden Pflichten stets vortrefflich erfüllt. Und auch wenn er sich sehr wohl bewusst sein musste,
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