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Codewort Rothenburg

Codewort Rothenburg

Titel: Codewort Rothenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Béla Bolten
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Gleiche getan? Erfahrene Männer, seit Jahren, oft seit Jahrzehnten dabei. Niemand hatte den entscheidenden Hinweis gefunden.
    Daut warf eine Akte auf den Tisch.
    »Das ist doch Blödsinn! Wir können dieses Zeugs lesen, bis wir schwarz werden, damit fassen wir den Mörder nicht. Den finden wir nur draußen auf der Straße, nicht hier drinnen.«
    Er riss die Jacke vom Stuhl und sprang auf.
    »Ich muss hier raus, oder ich ersticke!«
    Rösen starrte ihn an, sagte aber kein Wort. Sie hatten ohnehin wenig geredet in den vergangenen zwei Tagen. Jeder hing seinen Gedanken nach.
    Jetzt stürmte er aus dem Gebäude. Am Kanal entlang, die Linden runter, durchs Brandenburger Tor in den Tiergarten. Er rannte und rannte. Verließ die Chaussee, nahm die kleinen Wege. Die Sonne schien, es war warm. Menschen schlenderten gelassen die Pfade entlang. Illusion. Alles nur Illusion. Theater. Niemand war gelassen. Nicht einmal die Kinder. Ein Trupp HJ-Jungen marschierte über die Wiese. »Ein Lied, zwei drei ...« Daut hielt sich die Ohren zu. Er rannte weiter, schwitzte, zog sich das Jackett aus und hängte es über die Schulter. Sein Atem rasselte. Die Hitze stieg ihm in den Kopf. Plötzlich stand er am Neuen See. Wandte sich nach links. Der Zoo lag verlassen da. Gespenstische Stille. Wie gerne waren sie früher mit den Kindern hierhergekommen. Walter liebte die Elefanten, und die Kleine drückte sich an den Scheiben des Aquariums die Nase platt. Vor ein paar Wochen waren einige Gebäude durch Bomben beschädigt worden, Tiere starben im Feuer. Wer in dieser Stadt lebte, war in Gefahr. Nein, das stimmte nicht, es war schlimmer. Wer in Deutschland lebte, war in Gefahr. Und diese Gefahr kam nicht nur von oben.
    Daut wandte sich Richtung Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Er wollte Menschen sehen. Normale Menschen. Soweit das überhaupt möglich war. Vor der Kirche nahm ein SA-Zug Aufstellung. Die Kapelle intonierte das Horst-Wessel-Lied, und am Straßenrand nahmen die Menschen Haltung an. Was heißt hier Haltung? Würden sie den Arm so grotesk nach oben reißen und Heil brüllen, wenn sie eine Haltung hätten? Er senkte den Kopf und ging weiter. Die NSDAP-Getreuen hassten den Kurfürstendamm. Er stand für alles, was sie beseitigen wollten. Dekadenz nannte sie es. Möglich, dass Daut ihn gerade deshalb mochte. Besser gesagt, gemocht hatte. Als er 1936 in die Stadt kam, war der Boulevard international. Es gab mehr Olympiafahnen als Hakenkreuze, mehr Cafés als auf jeder anderen Prachtstraße Europas. Unterhaltung und Kultur trafen sich hier. Noch vor einem Jahr hatte ihm Rösen eine amerikanische Zeitung unter die Nase gehalten. Auf dem Titel eine Karikatur des Führers. Gekauft an einem Kiosk auf dem Kurfürstendamm. Alles war hier möglich. War. Noch immer reihte sich Schaufenster an Schaufenster, auch wenn die Auslagen oft mager waren. Doch die alten, wohl klingenden Namen waren verschwunden. Arisierung lautete das Stichwort. Oft war nicht nur der Name ausgetauscht worden, sondern auch der Inhalt. Statt eines noblen Bekleidungsgeschäfts ein Tabakladen. Der einstige Prachtboulevard verkam wie das ganze Land. Nur am Theater am Kurfürstendamm sah alles aus wie immer. Ein Plakat kündigte ein Gastspiel an: »Axel an der Himmelstür«. In der Hauptrolle Johannes Heesters, der Liebling aller Frauen.
    Daut betrat ein Lederwarengeschäft. Seine verfluchte Holzhand brauchte ein neues Gewand. Die Verkäuferin weigerte sich, nur einen einzelnen Handschuh zu verkaufen. Also nahm er beide, obwohl sie höllisch teuer waren.
    Seine Schritte verlangsamten sich. Fast schlenderte er. Er sah aus wie ein Tourist in besseren Jahren auf der Suche nach den Verlockungen dieser sündigen Stadt. Giesebrechtstraße. Wie automatisch bog er ab und stand vor dem Haus Nummer elf. Es dämmerte. Er war hungrig. Durstig. Voller Sehnsucht nach einem anderen, einem normalen, einem unbeschwerten Leben. Er läutete. Die Tür wurde geöffnet. Er trat ein.

Dreißig

    Luise war überrascht, als es an der Tür klingelte. Sie bekam selten Besuch. Axel konnte es nicht sein, so früh kam er nie nach Hause. Außerdem hatte er einen Schlüssel. Oder hatte er wieder getrunken? Nein, tagsüber rührte er normalerweise keinen Alkohol an. Aber was war schon normal? Luise wischte sich die Hand an der Schürze ab und öffnete die Tür. Vor ihr stand Erna Neeb, einen Einkaufskorb über dem Arm.
    »Ich habe noch Erdebeeren ergattern können. Sie sind zwar nicht mehr ganz frisch, aber

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