Codewort Rothenburg
für einen Kuchen taugten sie noch.«
Erna lüftete das blau karierte Tuch, das den Korb abdeckte. Darunter leuchteten vier große Tortenstücke.
Luise klatschte in die Hände.
»Erdbeeren! Ich weiß schon bald nicht mehr, wie die schmecken. Komm rein, Erna.«
Die beiden Frauen gingen in die Küche. Luise holte vier Teller aus dem Schrank, und Erna schob je ein Stück Kuchen darauf.
»Walter, Ilse, kommt und seht, was Frau Neeb mitgebracht hat!«
Tanzend und trällernd hüpfte das Mädchen in die Küche. »Kuchen!«, jauchzte sie. Anscheinend hörte ihr Bruder den Ausruf, denn zwei Sekunden später stand er in der Tür.
Erna Neeb strich ihm übers Haar.
»Das Zauberwort holt selbst die größte Leseratte aus ihrer Höhle, oder?«
»Hhm«, antwortete Walter.
»Du bist doch sonst nicht so wortkarg«, tadelte ihn Luise. »Wie wäre es, wenn ihr euch ordentlich bedankt.«
Walter machte einen Diener und Ilse einen Knicks.
»Danke, Frau Neeb«, sagten sie im Chor.
»Schon gut, Kinder. Jetzt nehmt eure Teller und geht in den Hof. Eure Mutter ist nicht begeistert, wenn ihr in der Wohnung alles vollkrümelt.«
Als Ilse die Flurtür hinter sich zugezogen hatte, zauberte Erna eine kleine Papiertüte aus dem Korb.
»Ist es das, wonach es riecht?«, fragte Luise.
»Echter Bohnenkaffee in Friedensqualität«, antwortete Erna.
Während Luise den Kaffee mahlte, Wasser aufsetzte und anschließend das wunderbar duftende Getränk langsam aufbrühte, schwiegen die Frauen. Luise war aufgeregt wie immer, wenn sie Erna traf. Kaffee und Kuchen. Fast so etwas wie Normalität, für ein paar Minuten wenigstens. Erst als sie am Tisch saßen und aßen, sagte Erna Neeb:
»Ich wollte nur sehen, ob du den Schock verdaut hast.«
Luise schüttelte langsam den Kopf.
»Ich glaube nicht, dass ich jemals verarbeiten werde, was ich gestern gesehen habe.«
Erna Neeb legte ihrer Freundin die Hand auf den Arm.
»Das geht uns allen so - selbst wenn wir diese Fotos und Filme häufiger gesehen haben. Aber wir dürfen nicht aufgeben und auch nicht verzweifeln. Auch dieses Elend wird ein Ende haben.«
Luise blies in die Tasse, um den Kaffee abzukühlen.
»Ihr redet alle so selbstverständlich über das Ende als etwas Erstrebenswertem. Ich frage mich, was ihr meint, wenn ihr das sagt. Nur das Kriegsende? Oder das Ende der Nazis? Und wird, was auch immer geschieht, das nicht unweigerlich auch der Untergang Deutschlands sein? Ihr könnt doch nicht wollen, dass wir am Ende gedemütigt werden. Macht sich keiner von euch jemals Gedanken, später als Verräter dazustehen - so wie nach dem letzten Krieg?«
Erna lehnte sich zurück und schaute Luise einige Sekunden an, ehe sie antwortete.
»Du meinst die Geschichte vom Dolchstoß? Das ist Unsinn. Am Ende des letzten Krieges war Deutschland besiegt, nur waren die Sieger nicht konsequent genug. Man hätte den Kaiser und die Offiziere dazu bringen müssen, die Niederlage einzugestehen - ohne jede Ausrede. Stattdessen zwang man uns einen Frieden auf, dessen Bedingungen genauso falsch wie ungerecht waren. 1918 hätte man eine völlig neue Ordnung in Europa schaffen können, die einen dauerhaften Frieden garantiert hätte. Stattdessen löste man keinen einzigen der alten Konflikte. Deshalb halten die meisten von uns eine totale Niederlage am Ende dieses Krieges für notwendig. Und ich bin sicher, dass es dazu kommen wird. An Russland sind bisher alle gescheitert, selbst Napoleon. Am Ende wird mit der Niederlage der Nazis die alte Ordnung in Europa untergehen und eine neue entstehen. Dafür arbeiten wir. Glaub mir, wir sind nicht nur gegen etwas, vielmehr kämpfen wir für etwas. Unser Ziel, an das wir fest glauben, ist eine gerechte Welt, in welcher der Mensch der Freund des Menschen sein kann.«
Erna erstaunte Luise einmal mehr. Sie wirkte wie eine nette, harmlose Großmutter und wusste gleichzeitig so viel über Politik und Geschichte. Wie sie die Sache mit dem Friedensdiktat erklärte - so hatte Luise das noch nie gesehen. Die Begeisterung umgab ihre Freundin wie eine Aura. Das war etwas ganz anderes als die hysterischen Massen im Sportpalast bei einer Hitlerrede.
Erna Neeb trank einen Schluck Kaffee und beugte sich zu Luise vor.
»Für dich ist das alles neu, und Neues macht uns oft erst einmal Angst. Natürlich wissen auch wir, dass in den kommenden Monaten viel Schreckliches geschehen wird. Wir sind doch keine realitätsfernen Fantasten. Viele Menschen werden sterben - auch viele Unschuldige
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