Codex Alera 06: Der erste Fürst
Rande der Dammstraße miteinander sprachen. Amara hob lässig eine Hand und setzte ihre Willenskraft ein. Cirrus fuhr in einem Windstoß auf den feindlichen Elementar los, und als die beiden aufeinandertrafen, wurden die Umrisse von Amaras Elementar in gespenstischem weißem Licht als geisterhaftes, langbeiniges Pferd sichtbar. Wie ein Dutzend andere im Laufe der letzten Stunde war dieser Zusammenstoß kurz. Cirrus’ um sich schlagende Hufe verscheuchten die Windmähne schnell.
»Gräfin«, sagte Ehren, »soweit ich weiß, warst du in der Stadt.«
Amara nickte. Sie fühlte sich seltsam losgelöst von den Ereignissen der Nacht, unbewegt und gelassen. Sie war natürlich nicht ruhig. Nach allem, was sie gesehen hatte, wäre nur eine Wahnsinnige ruhig gewesen. Sie hatte den Verdacht, dass ihr Zustand eher einer Betäubung glich. Die verängstigte, verwundete Menschenflut vor ihr wäre herzzerreißend gewesen, wenn sie nicht so viel Schlimmeres innerhalb der Mauern von Riva gesehen hätte, als die verwilderten Elementare die Stadt überrannt hatten. »Eine Weile habe ich Botschaften zwischen Riva und Aquitania hin und her getragen.«
Ehren musterte sie einen Moment lang aufmerksam. Dann fragte er: »So schlimm?«
»Ich habe gesehen, wie ein Erdelementar, der wie ein Gargant aussah, ein Gebäude niedergerissen hat, das der Unterbringung von Waisenkindern diente«, sagte sie ausdruckslos. »Ich habe gesehen, wie eine schwangere Frau von einem Feuerelementar zu schwarzen Knochen verbrannt worden ist. Ich habe gesehen, wie eine alte Frau von einem Wasserelementar in einen Brunnen gerissen wurde, während ihr Mann die ganze Zeit ihre Handgelenke festgehalten hat. Er ist mit ihr gegangen.« Sie hielt inne, grübelte über die gelassene, ausdruckslose Ruhe ihrer eigenen Stimme nach, und setzte hinzu: »Die zweite Minute war schlimmer.«
Ehren verschränkte die Arme und erschauerte. »Ich will nicht einmal darüber nachdenken, was geschehen wäre, wenn die Hohen Fürsten nicht in der Lage gewesen wären, in die Stadt zurückzukehren, um einige der wilden Elementare zu vertreiben.«
»Das stimmt«, sagte Amara.
»Gräfin, bist du dir sicher, dass es dir gut geht?«
»Vollkommen.«
Der kleine Kursor sah sie an. »Und … der Graf?«
Amara spürte, wie sie noch entrückter wurde. Sie vermutete, dass das der einzige Grund dafür war, dass sie nicht hysterisch weinte. »Ich weiß es nicht. Er gehörte zu Rivas Kommandostab. Er war nicht da.«
Ehren nickte. »Er … scheint kein Mann zu sein, der drinnen bleibt, wenn so etwas passiert.«
»Nein. Das ist er nicht.«
»Wenn ich raten müsste«, sagte Ehren zögernd, »dann würde ich sagen, dass er wahrscheinlich bei der Evakuierung geholfen hat. Und dass du ihn sehen wirst, sobald er jeden aus der Stadt gebracht hat, bei dem er es bewerkstelligen kann.«
»Das würde durchaus zu ihm passen«, pflichtete Amara ihm bei. Sie trank einen großen Schluck aus einer Wasserflasche, von der sie ganz vergessen hatte, dass sie sie in der Hand hielt. Dann reichte sie sie Ehren zurück. »Danke.«
»Das ist doch selbstverständlich«, sagte er. »Wohin gehst du jetzt?«
»Ich soll mich an einer Luftpatrouille über dem Flüchtlingstreck beteiligen«, sagte Amara. »Fürst Attis glaubt, dass die Lufttruppen weiter hinten über der Dammstraße in Stellung gegangen sind, um uns anzugreifen.« Sie hielt inne und fragte dann: »Und du?«
»Ich führe die Nahrungsmittel und anderen Vorräte des Trecks zusammen«, sagte Ehren und verzog das Gesicht, »was blankem Diebstahl sehr nahekommt – besonders für all die, denen auf meinen Befehl das Essen weggenommen wird.«
»Wir haben keine Wahl«, sagte Amara. »Ohne Rationierung hätten die meisten dieser Leute nicht die Kraft, Calderon zu erreichen.«
»Ich weiß«, sagte Ehren, »aber das macht es auch nicht erfreulicher.« Sie wurden beide still und sahen zu, wie die Flüchtlinge vorbeischlurften. »Bei den Krähen.« Er seufzte. »Es ist kaum zu glauben, dass es noch schlimmer hätte kommen können. Eines muss man dem Princeps lassen, er kann schnell reagieren.«
Amara spürte, wie sich tief unter der Betäubung ein Gedanke regte. Sie runzelte die Stirn. »Ja«, sagte sie, »die Anwesenheit der Hohen Fürsten in der Stadt war das Entscheidende …« Sie sog scharf die Luft ein, als der Gedanke sich in ihrem Kopf kristallisierte. »Ritter Ehren. Die Vord werden sie angreifen.«
»Ich wünsche ihnen viel Glück«, prustete Ehren.
Weitere Kostenlose Bücher