Codex Alera 06: Der erste Fürst
Fell haftete. Einen Moment lang konnte Marcus sich nicht vorstellen, was für ein Tier eine derart scheckige, schlecht zusammenpassende, gestückelte Haut hinterlassen würde. Dann begriff er, was er vor sich sah.
Die scheußliche Decke bestand aus etwa hundert menschlichen Kopfhäuten. Viele von ihnen hatten so zarte Haare, dass sie beim besten Willen nicht von Erwachsenen stammen konnten. Manche der Skalps waren tatsächlich sehr klein.
Marcus kämpfte die Übelkeit nieder, die in ihm aufstieg, und kehrte fast blind in den Frachtraum zurück. Auf dem Deck des Schiffs hörte er eine Trompete schmettern, ein Signal, in das andere mit einfielen: die Vorwarnung, dass es in einer Viertelstunde weitergehen würde. Die Flotte machte sich bereit, sich wieder in Bewegung zu setzen.
Marcus und Sha kehrten zu der Öffnung im Schiffsrumpf zurück, sprangen in den Hohlraum darunter und zerrten Khral mit. Marcus rief Vamma knurrend zu sich, und binnen eines Augenblicks waren sie wieder von Erde umschlossen.
»Ist er am Leben?«, fragte Marcus unmittelbar darauf.
»Strenggenommen ja«, antwortete Sha.
»Weck ihn auf.«
Sha schwieg in der Dunkelheit. Dann knurrte er leise etwas. Das Geräusch mehrerer heftiger Schläge ertönte. Khral begann, ächzende Laute hervorzustoßen.
»Spricht er Aleranisch?«
»Nein«, sagte Sha.
»Übersetz bitte für mich.«
»Ja.«
Marcus streckte eine Hand aus und tastete blind, bis er auf Khrals Fell traf. Dann ließ er die Hand vorschnellen, packte den Cane am Ohr und zerrte ihn mit aller Kraft, die Vamma ihm verleihen konnte, vorwärts.
»Ich werde dich gleich töten«, sagte er leise, und Sha wiederholte es in grollendem Canisch. »Wir werden jeden Augenblick aufbrechen, aber du wirst hier zurückbleiben. Zehn Fuß unter der Erde und dem Eis. Der Dreck wird auf dir lasten, dir in Mund, Nase und Augen dringen.« Er verdrehte das Ohr brutal. »Du wirst zerquetscht werden, ganz langsam, Khral. Und niemand wird auch nur wissen, ob du noch am Leben oder tot bist.«
Marcus wartete, bis Sha zu sprechen aufgehört hatte, und stieß Khral dann grob von sich, wobei er sein Ohr losließ. Khral brabbelte etwas Unzusammenhängendes auf Canisch, und es klang, als ob er versuchte, sich an Sha festzuklammern.
Marcus hörte, wie Sha sein sägezahnbewehrtes Werkzeug aus der Scheide zog, und hörte es mit einem fleischigen, dumpfen Laut zuschlagen. Khral stieß einen Schrei aus. Einen Augenblick später roch Marcus Galle und Unrat. Sha hatte dem Ritualisten die Eingeweide aufgerissen.
Marcus legte die Hand auf die Erdwand und ließ durch seine Willenskraft das Tunnelwirken wieder beginnen. Khral begann in noch größerer Panik etwas zu stammeln, als die Luftkugel sich von ihm wegbewegte, ihn zurückließ. Er lallte und schrie weiter, bis seine Stimme nach ein paar Sekunden schlagartig verschwunden war.
Sha ließ ein befriedigtes Knurren vernehmen, machte aber sonst keine Bemerkung.
Sie kamen dort wieder hervor, wo sie das Tunnelwirken begonnen hatten, und Marcus sah sich vorsichtig um, bevor er herauskletterte – aber er stellte fest, dass niemand auch nur im Geringsten auf sie achtete. Die Hörner wurden immer noch geblasen. Marcus ließ den Blick ringsum schweifen, so gut er konnte, und entdeckte geflügelte schwarze Gestalten hoch oben, die von Süden angeflogen kamen. Vordritter.
»Komm!«, brummte Marcus Sha zu, während er wieder auf die Eisfläche hinauskletterte.
Sha folgte Marcus auf dem Fuße und begann zu knurren.
»Ja«, sagte Marcus zur Antwort. »Wir werden angegriffen.«
23
Marcus war noch keine zwanzig Fuß weit gelaufen, als Antillus Crassus auf einer tosenden Säule aus kaltem Wind aus dem offenen Himmel angeflogen kam, neben ihm landete und mitrannte. »Erster Speer! Der Hauptmann will dich sprechen!«
»Wo?«, rief Marcus zurück. Trommeln und Hörner erschollen weiter, und überall rannten Canim wie Aleraner zu ihren Schiffen zurück. Flaggen wurden an den Masten aufgezogen – die grünen Wimpel, die das Signal dafür waren, die Fahrt mit voller Geschwindigkeit fortzusetzen.
Statt zu antworten, zog sich Crassus einen von Marcus’ Armen über die Schultern und umklammerte ihn mit eisernem Griff. Beide wurden von einer plötzlich auffrischenden Windböe in die Luft gehoben. Das Eis unter ihnen entfernte sich, als sie im hohen Bogen aufstiegen, und Marcus ertappte sich dabei, dass er nur mit Mühe den Impuls unterdrückte, sich in Todesangst an dem jungen Tribun
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