Codex Alera 06: Der erste Fürst
aufgehört hatte zu sprechen, teilte sich die Öffnung des Zelts und ein hochgewachsener, wettergegerbter alter Cane trat daraus hervor. Er trug einen Umhang, der aus Teilen von Vordchitin zusammengesetzt war, und der Schädel eines verwachsenen Vordkriegers diente ihm als Kapuze. Weitere Chitinplatten schützten seinen Oberkörper und seine Beine. Sein Pelz war wie der Vargs nachtschwarz, aber seine Unterarme waren beide derart von Narben überladen, dass dort kaum noch Fell wuchs. Er trug einen Beutel am Riemen über der Brust. Das Band war aus etwas gewoben, das nach den Beinen vieler Wachsspinnen aussah. Auch der Beutel bestand aus dem schwarzen Chitinschädel irgendeiner Vordart, die Tavi noch nie gesehen hatte – aber anstelle von Blut enthielt er mehrere Schriftrollen und etwas, das vielleicht eine Art aus Knochen geschnitzter Flöte war. Der alte Cane trug auch zwei Dolche Seite an Seite im Gürtel. Ihre Knochengriffe wirkten alt und abgenutzt.
»Meister Marok«, grollte Varg. Er entblößte die Kehle ganz leicht in der Canimversion einer Verneigung. Marok erwiderte die Geste nur einen Hauch tiefer und zollte so Vargs Führerschaft Respekt, ohne ihn als höherrangig anzuerkennen.
»Varg«, antwortete Marok. »Hat dich noch keiner getötet?«
»Du kannst gern dein Glück versuchen«, antwortete Varg. »Die Blutsprecher haben dir gestattet, für sie zu sprechen?«
»Sie haben Angst, dass Khral sie alle töten lässt, sobald er zurückkehrt, falls einer von ihnen sich an die Spitze des Rudels setzt.«
»Khral«, sagte Varg mit einem amüsierten Unterton.
»Oder irgendjemand.« Marok beäugte Tavi. »Ist dies der Dämon Tavar?«
Vargs Ohren zuckten zustimmend. » Gadara , das hier ist Marok. Ich achte ihn.«
Tavi zog die Augenbrauen hoch und begrüßte Marok mit einer Canimverbeugung, die genau im selben Maße erwidert wurde. Der alte Cane musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.
»Du hast zwei meiner Leute getötet«, sagte Marok.
»Ich habe mehr als zwei getötet«, antwortete Tavi. »Aber wenn du die beiden falschen Boten meinst, die mich in meinem Zelt angegriffen haben, dann ja. Ich habe einen getötet, ein Soldat unter meinem Befehl den anderen.«
»Das Zelt gehörte dem Tavar«, sagte Varg. »Er hat die Erzeuger nicht aufgesucht, um sie zu ermorden. Sie sind in sein Gebiet eingedrungen.«
Marok knurrte. »Der Kodex verlangt eine Blutantwort, wenn ein Außenstehender einen von uns tötet, ganz gleich unter welchen Umständen.«
»Ein Außenstehender«, grollte Varg. »Er ist ein Gadara .«
Marok hielt inne, um Varg nachdenklich zu mustern. Mit weit leiserer, ruhigerer Stimme murmelte er: »Das könnte funktionieren, wenn wir dafür sorgen können, dass es Bestand hat.«
Tavi tat es Marok nach und senkte ebenfalls die Stimme. »Varg. Wenn Lararl getan hätte, was ich getan habe, was wäre dann die angemessene Antwort darauf?«
Varg knurrte. »Meine Leute auf seinem Gebiet? Das wäre einfach die Verteidigung seines Reviers. Sie wären im Unrecht gewesen, nicht Lararl. Allerdings hätte ich es unter diesen Umständen als unbeholfen und verschwenderisch betrachtet, die beiden zu töten, da Lararl sie höchstwahrscheinlich einfach hätte kampfunfähig machen können.«
Tavi verzog das Gesicht. »Das wollte ich auch nicht. Wir waren nur zu zweit. Jeder von uns hat versucht, sich seines Gegners zu entledigen, um dem anderen helfen zu können. Ich hätte sie lieber lebendig ergriffen, so dass sie Fragen darüber hätten beantworten können, wer sie geschickt hat.«
Marok brummte. Er sah Varg an. »Du glaubst ihm?«
» Gadara , Marok.«
Der alte Cane legte den Kopf zur Zustimmung leicht schief. »Khrals Plündererhorde wird einen Wirbelsturm von Geheul erheben, wenn du einem der Dämonen den Status eines Mitglieds des Volks verleihst. Ihn als Gadara zu bezeichnen ist Kriegersache und dein gutes Recht. Einen Dämon im Sinne des Kodex zu einem unseres Volkes zu machen ist eine ganz andere Angelegenheit.«
Varg knurrte. »Ohne diesen Dämon gäbe es kein Volk mehr, dem der Kodex als Richtschnur dienen könnte.«
»Die Tatsache ist mir nicht entgangen«, antwortete Marok. »Aber das ändert nichts am Kodex.«
»Dann muss es also eine Blutantwort geben«, sagte Varg.
»Ja.«
Varg bewegte seine Ohren nachdenklich zur Zustimmung und wandte sich Tavi zu. »Wärst du willens, zwei aleranische Leben gegen die, die du genommen hast, einzutauschen?«
»Niemals«, sagte Tavi leise.
Aus Maroks
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