Codex Alera 06: Der erste Fürst
Wo ist Ritter Ehren?«
Attis’ Wangenknochen schienen noch krasser hervorzutreten. »Er ist heute Morgen auf der Mauer gefallen, als er sich einem Durchbruch der Vord entgegengestellt hat.«
Amara spürte, wie sich ihr Magen zusammenschnürte. Sie hatte den jungen Mann gemocht und Respekt vor seinen Fähigkeiten und seiner Intelligenz gehabt. Sie konnte es kaum ertragen, sich vorzustellen, wie er kalt und tot auf den Steinen jener Mauer lag. »Oh, bei den großen Elementaren«, hauchte sie.
»Weißt du, Gräfin«, sagte Attis, »wessen Idee es war, mich damals in Riva als Zielscheibe anzubieten? Allein und verwundbar, um Invidia oder die Königin hervorzulocken?« Sein erschöpftes Lächeln hatte noch immer etwas Löwenhaftes. »Natürlich hat er es nicht so formuliert.«
»Wirklich?«, fragte Amara leise.
»Ja. Er hat es so zurückhaltend vorgeschlagen, dass ich eine Weile nachdenken musste, um mich daran zu erinnern, dass es nicht meine Idee gewesen war.« Er hustete noch einmal, aber es lag keine Energie darin. »Natürlich wird niemand je darüber Gewissheit erlangen können«, sagte er, »aber ich glaube, dass der kleine Mann mich gemeuchelt hat. Da hat er nun schon kaum einen eigenen Elementar, und …« Er hustete und lachte zugleich; beides klang trocken vor Erschöpfung. »Vielleicht war das der Grund dafür, dass er darauf bestanden hat, heute Morgen auf der Mauer zu bleiben. Er wollte beobachten, was geschehen würde, als er Antillus und die anderen ausgeschickt hat, um für das Feuer den Blasebalg zu spielen – weil er wusste, dass sein Vorschlag solche Macht hatte.« Er wies mit einer Hand auf seinen eigenen zerstörten Körper. »Vielleicht, weil er ein schlechtes Gewissen hatte und ständig das Ergebnis seiner Taten vor Augen geführt bekam.«
»Oder vielleicht, weil er kein Ränkeschmied und Meuchelmörder war, sondern einfach ein treuer Diener des Reichs«, sagte Amara.
Ein schiefes, bitteres Lächeln spielte um seine Lippen. »Das eine schließt das andere nicht unbedingt aus, Gräfin.«
»Er hätte nicht dort sein sollen. Er ist nie als Soldat ausgebildet worden.«
»In einem Krieg wie diesem, Gräfin«, sagte Attis sehr leise, »gibt es keine Zivilisten. Nur Überlebende. Gute Menschen sterben, obwohl sie es nicht verdient haben. Oder vielleicht haben wir es alle verdient. Oder vielleicht niemand. Es spielt keine Rolle. Der Krieg hat keinen größeren Respekt vor Personen als der Tod.« Er schwieg einen Moment lang und sagte dann: »Er war mehr, als ich je gewesen bin. Er war ein guter Mann.«
Amara neigte den Kopf und blinzelte plötzliche Tränen fort. »Ja. Das war er.«
Attis hob schwach die Hand und gab ihr einen Wink. »Geh. Du hast viel zu tun.«
Die Vord erschienen etwa eine Viertelstunde, nachdem Amara aus der Halle des Wehrhofs ins Freie getreten war. Trompeten schmetterten. Legionares hielten sich bereit, während Pioniere eben damit fertig wurden, die Tore zu schließen, die in die Steine gewirkt worden waren. Nun bildete die Mauer eine einzige Fassade aus massivem Granit, die so poliert war, dass sie glänzte. Amara stand neben Bernard auf einem Turm, der die Mauer um zehn Fuß überragte. Verteidigungstürme waren in Abständen von hundert Schritt auf ganzer Länge der Mauer verteilt, die hier etwas weniger als drei Meilen lang war.
Ein Kurier landete auf dem Turm, wirbelte kurz eine kleine Windböe auf und salutierte. »Graf Calderon.«
Bernard wandte den Blick nicht von dem Feld vor ihnen ab. »Erstatte Bericht.«
Der junge Mann stand da und blinzelte unsicher.
Amara seufzte und winkte ihn heran. Er trat zögerlich ein paar Schritte näher.
»So«, sagte Amara, als er an der Windbarriere vorbei war, die sie aufrechterhielt, um zu verhindern, dass Bernards Befehle von feindlichen Elementarwirkern überwacht wurden. »Kannst du uns jetzt hören?«
»Oh«, sagte der Kurier und wurde rot. »Ja, gnädige Gräfin.«
»Erstatte Bericht«, sagte Bernard genau im selben Ton wie zuvor.
Der junge Mann wirkte ein wenig panisch. »Hauptmann Miles lässt dich grüßen, Graf, und lässt ausrichten, dass eine beträchtliche Streitmacht der Feinde nach Norden vorrückt, um die Mauer zu umgehen.«
»Hm«, sagte Bernard. »Danke.«
Die Augen des jungen Mannes wurden groß. »Äh, Graf? Hauptmann Miles befürchtet, dass der Feind uns in die Flanke fallen wird. Es liegt beinahe eine Viertelmeile offenen Lands zwischen dem Ende der Mauer und dem Berghang.«
»Und das ist ein
Weitere Kostenlose Bücher