Codex Alera 06: Der erste Fürst
paar Wellen, und eine geisterhafte Stimme flüsterte: »Junger Gaius?«
Tavi sprang auf und eilte ans Becken. Es bildete die einzige Möglichkeit für Alera, ihm noch zu erscheinen. Im Laufe der sechs Monate seit der Dritten Schlacht von Calderon war sie immer weiter verblasst und seltener und für immer kürzere Zeit erschienen. Tavi beugte sich über das Becken und lächelte auf das Wasser hinab, in dem das gespenstische Spiegelbild von Aleras Gesicht erschienen war.
»Du wirst gleich heiraten«, sagte Alera. »Das ist ein bedeutender Moment. Ich wünsche dir anlässlich dieses Tages alles Gute.«
»Danke«, antwortete Tavi.
Sie lächelte ihn mit gütiger und irgendwie befriedigter Miene an. »Wir werden so nicht wieder miteinander sprechen.«
Ein kleiner Schmerz durchzuckte Tavis Brust bei diesen Worten – aber er hatte gewusst, dass dieser Tag nahte. »Ich werde die Unterhaltungen mit dir vermissen.«
»Ich kann nicht dasselbe behaupten«, erwiderte Alera, »wofür ich … ein wenig dankbar bin. Es wäre unangenehm.« Sie atmete langsam ein und nickte dann. »Bist du sicher, dass du weiter den Weg beschreiten willst, den du eingeschlagen hast?«
»Nun ja. Du hast gesagt, ich hätte dich aufgrund unserer Bindung unwissentlich Kitai vorgestellt. Deshalb kannst du auch mit ihr sprechen.«
»In der Tat.«
»Dann solltest du mir vertrauen. Der Umgang mit den anderen Marat wird auf gewisse Weise genauso bereichernd sein, und auch der mit den Canim. Und die Eismenschen verstehen sich schon aufs Wasserwirken, ob es ihnen nun bewusst ist oder nicht. Es bedeutet kaum eine Veränderung.«
»Irgendwie glaube ich nicht, dass die fürstlichen Ahnen deines Hauses dir zustimmen würden. Sie wären sicher auch nicht einverstanden mit dem Gedanken an … wie hast du es noch ausgedrückt?«
»Elementarwirken nach Verdienst«, sagte Tavi. »Die, die mehr davon wollen, sollten in der Lage sein, es sich zu erarbeiten. Das ist nur gerecht. Wir verlieren in jeder Generation den Beitrag kluger Köpfe nur deshalb, weil sie nicht mit genug Elementarkräften geboren worden sind, um Respekt für ihre Ideen einfordern zu können. Wenn sich das nicht ändert, werden wir nicht überleben.«
»Ich stimme dem durchaus zu«, antwortete Alera, »und ich bin willens, deinen Plan vor dem Ende in die Tat umzusetzen. Ich bin nur … überrascht, diese Sichtweise bei einem Sterblichen zu finden.«
»Ich habe alles gehabt«, sagte Tavi und wies auf das Zimmer, »und ich habe nichts gehabt. Und ich habe meinen Frieden mit beiden Stellungen gemacht. Das ist nichts, was viele meiner Vorfahren von sich behaupten könnten.«
»Dein Volk wird künftig auf dieses Jahr zurückblicken und es ein großes Wunder nennen. Sie werden es als den Zeitpunkt betrachten, zu dem deinesgleichen aus der Dunkelheit ins Licht trat.«
»Wenn derart lächerlich arrogante Besserwisser tatsächlich überleben, um das zu tun, werde ich es zufrieden sein«, antwortete Tavi.
»Meiner Schätzung nach habt ihr anderthalb Jahrhunderte. Vielleicht zwei. Dann wird die Vordkönigin aus Canea kommen und euch angreifen.«
Tavi nickte. »Dann werde ich uns darauf vorbereiten – oder uns zumindest ein Stück weit auf den Weg dorthin bringen.«
»Seltsam«, sagte Alera. »Ich kann mich in gewissem Maße in dich einfühlen, da ich weiß, dass große Ereignisse ihre Schatten vorauswerfen, ich aber nicht mehr hier sein werde, um sie mitzuerleben. Ich fühle mich mehr wie eine Sterbliche als zu jedem anderen Zeitpunkt, den ich in dieser Gestalt erlebt habe.«
»Das war zu erwarten. Du stirbst ja schließlich.«
Alera lächelte warm. »Das ist wahr«, flüsterte sie, »und doch nicht wahr. Ein Teil von mir, junger Gaius, wird immer bei dir und nach dir bei deinen Kindern sein.«
»Was meinst du damit?«, fragte Tavi.
Aber das Spiegelbild im Wasser war sein eigenes.
Er starrte noch ein paar Augenblicke lang auf das Becken herab, nur um sicher zu sein. Dann erhob er sich, verscheuchte mittels Wasserwirken die Tränen aus seinen Augen und schritt seinem Schicksal entgegen.
Tavi traf sich mit Kitai vor dem Amphitheater von Riva, in dem der Senat, die Civitas und alle anderen, die sich in das Gebäude hatten zwängen können, sie schon erwarteten. Die junge Marat trug ein weißes Kleid, das eine Schulter freiließ und sie ganz hinreißend umspielte. Goldgesäumt und mit Perlen und Edelsteinen bestickt bildete ihr Gewand das passende Gegenstück zu Tavis eigener Tunika.
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