Codex Alera 06: Der erste Fürst
größeres Hindernis als eine weiche Schneewehe. Invidia konnte sich kaum die gewaltige Macht und Konzentration vorstellen, die erforderlich sein mussten, um so etwas geschehen zu lassen – und das bei einem Geschöpf, das anscheinend vor weniger als einer Stunde geboren worden war.
Aber so schnell und furchterregend die junge Königin auch sein mochte, das Kräfteverhältnis war nicht ausgeglichen. Wenn Krallen die ältere Königin trafen, stoben Funken von ihrem scheinbar so weichen Fleisch auf, das den Angriff abprallen ließ. Aber wenn die jüngere Königin getroffen wurde, teilte sich das Fleisch, und grünbraunes Blut spritzte in schmalen Fontänen auf. Die Vordköniginnen fochten wirbelnd, kletternd und springend ein Duell mit zu hoher Geschwindigkeit aus, als dass es möglich gewesen wäre, klar zu sehen oder gar einzugreifen; Invidia bemerkte plötzlich, dass sie die Bewegungen nur noch verfolgte, um zu wissen, wann sie vielleicht würde aus dem Weg springen müssen.
Dann beging die ältere Königin einen Fehler. Sie glitt auf einer Blutlache der jüngeren Königin aus und geriet für einen Sekundenbruchteil aus dem Gleichgewicht. Der jüngeren Königin blieb keine Zeit, nahe genug für einen tödlicheren Schlag heranzukommen, aber mehr als genug, um hinter die ältere Königin zu huschen und den Stoff des dunklen Mantels zu packen. Mit einer Drehbewegung schlang sie den Umhang um den Hals der älteren Königin und lehnte sich zurück, zerrte mit ihren beiden so schwach wirkenden Armen und zog den verzwirbelten Stoff wie eine Würgeschlinge um den Hals ihrer Mutter zu.
Die ältere Königin reckte sich in einem geschmeidigen Bogen und stemmte sich gegen den erdrosselnden Stoff. Ihr Gesichtsausdruck war recht ruhig, während der Blick ihrer dunklen Augen mit spürbarem Gewicht auf Invidia zu ruhen kam.
Die Aleranerin sah ihr ein paar endlose Sekunden lang in die Augen, bevor sie schließlich aufstand, die Hand hob und mit Willenskraft und Elementarwirken die Luft in Nase, Mund und Lunge der jungen Königin in eine flüssige Konsistenz verwandelte.
Die Reaktion erfolgte sofort. Die jüngere Königin wand und krümmte sich in plötzlicher Todesqual, während sie sich weiter verzweifelt an den verdrehten Umhang klammerte.
Die ältere Königin durchtrennte ihn mit einem Krallenhieb, machte sich los, drehte sich um, schlitzte mit einem halben Dutzend geschmeidig brutaler Bewegungen die jüngere Königin von der Kehle bis zum Bauch auf und riss ihr dabei die Organe heraus. Es geschah in aller Ruhe und war eher das Werk eines erfahrenen Schlachthausarbeiters als das Ende eines Kampfes.
Der Körper der jungen Königin sackte schlaff zu Boden. Die ältere Königin ging kein Risiko ein. Sie zerlegte ihn mit präzisen, fachmännischen Bewegungen. Dann wandte sie sich ab, als sei nichts geschehen, und ging zum Tisch zurück. Ihr Stuhl stand immer noch an seinem Platz, obwohl der Tisch zerstört war.
Die Königin setzte sich hin und starrte geradeaus, ins Nichts.
Invidia trat langsam an ihre Seite, richtete ihren eigenen umgestürzten Stuhl auf und setzte sich darauf. Eine Weile sprach keine von ihnen.
»Bist du verletzt?«, fragte Invidia schließlich.
Die Königin öffnete den Mund und tat dann etwas, was Invidia bei ihr noch nie erlebt hatte: Sie zögerte.
»Meine Tochter«, sagte die Königin, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Die siebenundzwanzigste seit der Rückkehr an die Gestade von Alera.«
Invidia runzelte die Stirn. »Die siebenundzwanzigste …?«
»Es ist Teil unserer … Natur.« Die Vordkönigin erschauerte. »Jede Königin trägt den unwiderstehlichen Drang in sich, getrennt von anderen zu bleiben. Rein. Unbesudelt vom Kontakt zu anderen Wesen. Und jegliche Königin auszumerzen, die Anzeichen von Verderbtheit zeigt.« Sie runzelte leicht die Stirn. »Ich verstehe das nicht. Sie hat mir keinen körperlichen Schaden zugefügt. Und doch …«
»… hat sie dich verletzt.«
Die Königin nickte sehr langsam. »Ich musste ihnen die Fähigkeit nehmen, mehr Königinnen hervorzubringen, sonst hätten sie sich vermehrt, um mich zu vernichten. Was uns allen geschadet hat. Es hat uns geschwächt. Eigentlich hätte diese Welt schon vor fünf Jahren den Vord gehören sollen.« Ihre Augen verengten sich, und sie richtete ihren Facettenblick auf Invidia. »Du hast eingegriffen, um mich zu beschützen.«
»Das hattest du kaum nötig«, sagte Invidia.
»Das wusstest du nicht.«
»Das ist
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