Codex Alera 06: Der erste Fürst
Feind, dem deine Leute je gegenübergestanden haben.« In ihren Augen funkelte etwas Wildes und Kaltes. »Man könnte durchaus den Standpunkt vertreten, junger Gaius, dass das, was mir widerfährt, Gerechtigkeit ist .«
Tavi nahm das einen Moment lang in sich auf und grübelte darüber nach. »Wenn du nicht mehr da bist … werden die Dinge sich ändern.«
Ihr Blick wurde undurchdringlich. »Ja.«
»Welche Dinge?«
»Alles«, sagte sie ruhig. »Für eine gewisse Zeit. Die Kräfte, die so lange in dieser Gestalt gebündelt waren, müssen wieder ein Gleichgewicht finden. Im ganzen Reich werden auf dem Lande mehr wilde Elementare herumgeistern, so dass es dort turbulenter und gefährlicher wird. Das gewohnte Wetter wird sich wandeln und verändern. Tiere werden sich seltsam verhalten. Pflanzen werden unnatürlich schnell wachsen oder ohne erkennbaren Grund verdorren. Das Elementarwirken selbst wird instabil und unberechenbar werden.«
Tavi erschauerte und malte sich das Chaos aus, das aus solch einer Umwelt erwachsen würde. »Gibt es keinen Weg, das zu verhindern?«
Alera sah ihn mit einem Ausdruck an, der beinahe wie Mitleid wirkte. »Keinen, junger Gaius.«
Tavi ließ sich auf einen Faltstuhl sinken und stützte mit gesenktem Kopf die Ellenbogen auf die Knie. »Nichts. Du bist dir sicher.«
»Alle Dinge enden einmal, junger Gaius. Eines Tages auch du.«
Tavi tat der Rücken weh. Bei irgendeiner Bewegung im Kampf mit den Canimmördern hatte er sich einen Muskel gezerrt. Es wäre das Beste gewesen, die Schmerzen in einer Wanne mit mildem Wasserwirken zu lindern. Allerdings war das Unbehagen noch so gering, dass er es auch ohne Wanne mit ein paar Minuten starker Konzentration hätte beheben können. Aber im Moment war er sich nicht sicher, ob er dazu in der Lage war.
»Du sagst mir«, sagte er, »dass es selbst, wenn wir irgendwie die Vord überwinden, noch nicht vorbei sein wird. Eines nicht allzu fernen Tages wird sich das Land selbst gegen uns wenden. Wir überstehen vielleicht diesen Albtraum, nur um danach im Chaos zu versinken.«
»Ja.«
»Das … heißt, dass ich so einiges vor mir habe.«
»Das Leben ist ungerecht, erbarmungslos und schmerzlich, junger Gaius«, sagte Alera. »Nur ein Wahnsinniger kämpft gegen den Strom.« Sie machte nicht das geringste Geräusch, aber als Tavi den Blick hob, sah er Alera vor sich knien, so dass ihr Gesicht, das seinem zugewandt war, sich auf gleicher Höhe mit ihm befand. Sie streckte die Hand aus und berührte seine Wange mit ihren zerfaserten Fingerspitzen. »Ich fand den besonderen Wahnsinn des Hauses Gaius immer schon einzigartig faszinierend. Es kämpft seit über tausend Jahren gegen den Strom. Oft ist es ihm nicht gelungen zu siegen. Aber es hat den Kampf nie aufgegeben.«
»Hat es sich schon einmal so einer Lage wie jetzt gegenübergesehen?«, fragte er leise.
»Vielleicht, als die ersten Aleraner herkamen«, sagte Alera mit entrücktem Blick. »Meine Erinnerung daran ist sehr schwach. Das war Hunderte von Jahren, bevor ich dein Volk kennenlernte. Aber es waren wenige. So wenige. Vielleicht elftausend Leben.«
»Ungefähr die Größe einer Legion mit ihrem Tross«, sagte Tavi.
Sie lächelte. »So war es auch. Eine Legion von einem anderen Ort, die verloren ging und hierher, in meine Lande, kam.« Sie wies auf den Eingang des Zelts. »Die Canim, die Marat, die Eismenschen. Allesamt verirrte Wanderer.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Auch die anderen. Die, die dein Volk im Laufe der Jahrhunderte ausgerottet hat. So viel Angst und Bedürftigkeit.«
»Als sie hergekommen sind, hatten sie noch keine Elementarkräfte?«, fragte Tavi.
»Jahrelang nicht.«
»Wie haben sie es dann geschafft?«, fragte er. »Wie haben sie überlebt?«
»Mit Barbarei, Können und Disziplin. Sie stammten von einem Ort, an dem sie die unangefochtenen Meister des Krieges und des Todes waren. Ihre Feinde hier hatten noch nie so etwas wie sie gesehen. Deine Vorfahren konnten nicht dorthin zurückkehren, von wo sie gekommen waren. Sie saßen hier in der Falle, und nur der Sieg sicherte ihr Überleben. So wurden sie Sieger – ganz gleich um welchen Preis.« Sie sah ihm gelassen in die Augen. »Sie taten Dinge, die du kaum glauben würdest. Sie haben die abscheulichsten und heldenhaftesten Taten überhaupt begangen. Die Generationen deines Volks wurden in jenen Tagen zu einem einzigen, barbarischen Verstand, einer Verkörperung des Todes – und als ihnen die Feinde
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