Codex Alera 06: Der erste Fürst
ausgingen, übten sie ihre Fähigkeiten aneinander.«
Tavi runzelte die Stirn. »Willst du sagen, dass ich und mein Volk dasselbe tun müssen, wenn wir überleben wollen?«
»Ich bin nicht diejenige, die eine Entscheidung trifft. Ich habe keine Meinung. Ich teile dir nur Tatsachen mit.«
Tavi nickte langsam und machte eine Handbewegung. »Bitte fahr fort.«
Alera runzelte nachdenklich die Stirn. »Erst als der ursprüngliche Primus all diejenigen niederwarf, die sich ihm entgegenstellten, und im Namen der Herstellung des Friedens einen brutalen Krieg führte, kamen sie wieder zu Verstand. Um etwas Größeres aufzubauen. Um den Grundstein des Reichs zu legen, wie du es heute kennst.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Gesetze. Gerechtigkeit. Kunst. Das Streben nach Wissen. All das entstammte einer einzigen Quelle.«
»Der Fähigkeit zu töten«, flüsterte Tavi.
»Stärke ist die grundlegende Tugend«, sagte Alera. »Das ist keine angenehme Tatsache, aber ihre Widerwärtigkeit ändert nichts an der Wahrheit, dass ohne die Stärke, sie zu beschützen, alle anderen Tugenden vergänglich und letztendlich bedeutungslos sind.« Sie beugte sich leicht vor. »Die Vord haben keine Illusionen. Sie sind willens, jedes Lebewesen auf dieser Welt zu vernichten, wenn das nötig ist, um das Überleben ihrer Art zu sichern. Sie sind der Fleisch gewordene Tod. Und sie sind stark. Bist du bereit zu tun, was vielleicht nötig ist, damit dein Volk überlebt?«
Tavi senkte den Blick und starrte zu Boden.
Es gab mehr, was er tun konnte, um die Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Viel mehr. Er konnte Schritte unternehmen, die er noch vor einem Jahr für völlig undenkbar gehalten hätte. Sein Verstand war immer ein Quell von Einfällen gewesen, und zum jetzigen Zeitpunkt war das nicht anders als sonst. Er hasste sich selbst dafür, dass er solch monströse Vorstellungen gebar, aber das Reich kämpfte um sein Leben. Tief in der Nacht, wenn er nicht schlafen konnte, wenn er am meisten Angst vor der Zukunft hatte, fielen ihm solche Schritte ein.
Schritte, die nur über die zerschmetterten Leichen der Toten hinweg unternommen werden konnten.
Prinzipien waren etwas Glanzvolles, Edles, dachte er. Diejenigen, die hart genug daran arbeiteten, sie zu bewahren, polierten sie liebevoll – aber es war einfach eine Tatsache, dass er, wenn er wollte, dass überhaupt Aleraner überlebten, vielleicht andere würde opfern müssen. Er würde womöglich vor der Entscheidung stehen, wer am Leben bleiben und wer sterben sollte. Und wenn er wirklich der Erste Fürst des Reichs, der Anführer seines Volks, sein sollte, würde er auch derjenige sein müssen, der diese Entscheidung fällte.
Es würde sogar seine Pflicht sein.
Eine Sturzflut von Gefühlen, die er sich selten zu empfinden gestattete, brach über ihn herein. Trauer um die, die er schon verloren hatte. Zorn darüber, dass andere vielleicht noch sterben würden. Hass auf den Feind, der das Reich in die Knie gezwungen hatte. Und Schmerz. Er hatte nie um diese Stellung gebeten, hatte sie nie gewollt. Er wollte nicht der Erste Fürst sein – aber er konnte auch nicht einfach fliehen.
Notwendigkeit. Pflicht. Die Worte klangen in den einsamen Gewölben seines Verstands verabscheuungswürdig.
Er schloss die Augen und sagte: »Ich werde tun, was nötig ist.« Dann schaute er zu der großen Elementarin auf, und seine Worte klangen selbst in seinen eigenen Ohren hart und kalt: »Aber es gibt mehr als nur eine Art von Stärke.«
Alera starrte ihn eine ganze Weile an und neigte dann langsam den Kopf. »So ist es, junger Gaius«, murmelte sie, »so ist es.« Damit verschwand sie.
Tavi saß auf seinem Faltstuhl und fühlte sich erschöpft, müde und schlaff wie ein ausgewrungenes Geschirrhandtuch. Er mühte sich ab, den Weg zu sehen, der vor ihnen allen lag, sich seine Windungen, Biegungen und Gabelungen auszumalen. Es gab Zeiten, in denen eine seltsame Art der Gewissheit plötzlich in seinen Gedanken aufblühte, ein Gefühl des kristallklaren Verstehens der Zukunft. Seinem Großvater war, wie den Ersten Fürsten vor ihm, eine prophetische Begabung nachgesagt worden. Tavi wusste nicht, ob das zutraf.
Doch eines war ihm klar: Die Vord mussten aufgehalten werden. Wenn Alera sie nicht niederringen konnte, würde sein Weg enden, schlagartig und in aller Stille. Niemand würde je erfahren, dass es ihn und die anderen gegeben hatte.
Aber selbst, wenn sie sich irgendwie durchsetzten,
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