Codex Mosel
Bäumen hätte keinen Zentimeter schmaler sein dürfen. Walde war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er den Mann bemerkt hätte, der ihm, im Dunkel der Bäume verborgen, folgte. Als er vor seiner Haustür ankam und versuchte, das Schlüsselloch zu treffen, stand der Mann mit einem Mal neben ihm.
»Ich will ihn zurück haben!«
Walde zuckte zusammen. Wer war dieser Typ, der plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war?
»Du wirst ihn mir zurückgeben!« Die Stimme klang energisch.
Walde spürte, wie sein rechter Oberarm von einem festen Handgriff umschlossen wurde. Der Schlüsselbund fiel klirrend auf die Fußmatte.
Der Mann trug einen Pullover mit Reißverschluss, unter der Kappe war keine einzige Haarsträhne zu sehen. Die leicht abstehenden Ohren ließen das Gegenlicht rötlich durchscheinen. Das Gesicht lag im Schatten.
Veit! Die Erkenntnis löste bei Walde keinen Adrenalinschub aus. Er konnte ihn nicht verhaften, vielmehr wurde er von dem Mann festgehalten, der ihm an Kraft überlegen schien.
»Waaas?«, lallte Walde.
»Den Schrein!«
Der Griff wurde noch fester.
»Der kommt wieder in den Dom zurück.«
Der Mann schien nachzudenken, ließ Waldes Arm los. Der wagte es nicht, sich nach dem Schlüssel zu bücken.
»Ich will ihn zurückhaben.« Beim dritten Mal lag hinter den Worten weniger Nachdruck. Walde beobachtete, wie der Mann in seine Hosentasche griff. Er nutzte die Gelegenheit, um sich nach dem Schlüssel zu bücken. Ohne Veit aus den Augen zu lassen, tastete er über die rauen Borsten der Matte, bis er den Schlüsselbund zu greifen bekam. Er schloss die Tür auf. Veit beobachtete ihn unbewegt. Walde ging hinein und schloss die Haustür von innen ab. Durch das dicke Glas der kleinen vergitterten Scheibe sah er Veit vor der Tür ausharren.
In der Wohnung war es still. Die Türen zum Schlafzimmer und zum Kinderzimmer waren angelehnt.
Walde ging ins Wohnzimmer. Im Dunkeln zog er die Jacke aus. Sie stank nach Rauch. Er öffnete die Tür zur Terrasse und hängte die Jacke über einen Stuhl. Über den hohen Mauern zur Straße türmten sich die Kronen der Alleebäume wie schwarze Gewitterwolken.
Drinnen verschloss Walde die Tür und legte sich auf die Couch.
*
Walde war ohne Frühstück aus dem Haus gegangen. Die frische Luft, die er auf dem Weg zum Präsidium in seine Lungen gesogen hatte, verlor bereits auf der Treppe zu seinem Büro ihre Wirkung. Auf dem Treppenabsatz stützte er sich auf das Geländer und keuchte wie nach einem Sprint über zweihundert Meter.
»Alle Achtung, du bist ins Büro gejoggt!« Jo stand auf dem Flur und hielt ein meterlanges Baguette in der Hand, an dessen Seiten Salat und Tomaten hervorquollen.
Auch das noch! Walde, der gehofft hatte, sich unbemerkt in sein Büro stehlen zu können, wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Du siehst aber gar nicht gut aus.« Jo biss krachend in das Baguette. »Wenn es dir nicht gut geht, warum bist du dann gelaufen?« Jo folgte Walde zur Bürotür, wo wieder nicht der richtige Schlüssel zur Hand war.
»Ich bin nicht gelaufen.« Der Geruch von Wurst und Mayonnaise ließ Walde den Kopf abwenden. »Mir ist einfach nur schlecht.« Die verdammte Tür ging nicht auf.
»Warum bist du denn nicht zu Hause geblieben?«
»Wenn wir den Mörder und den Egbert-Codex haben, gehe ich heim.« Die Tür sprang auf und Walde nahm einen tiefen Atemzug abgestandener Büroluft.
»Eigentlich heißt er Codex Egberti.«
»Codex Experti?« Walde blieb an seinem Schreibtisch stehen und stützte sich auf die Platte.
»Nein, Codex Egberti. Dieser ehemalige kleine Mokka heißt ja auch nicht Expresso, sondern Espresso oder so.« Jo nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz.
Walde schaffte es bis zum Fenster, wo er einen Spatz von der Fensterbank scheuchte.
»Hast du nicht mal neun Jahre in Latein neben mir gesessen?«
»Wenn du der vorlaute dicke Junge warst«, Walde öffnete das Fenster, »dieser Streber, den angeblich alles interessierte …« Walde atmete erschöpft die hereinströmende Luft ein.
»Das ist angeborene Neugier, da kann ich nichts für, ebenso wenig wie für meinen Appetit.« Wieder krachte das Baguette.
»Nicht zu vergessen den großen Durst.« In Höhe von Waldes Schläfen schienen von beiden Seiten Messer zu stecken, zudem war seine Nase verstopft.
»Damals war das reiner Wissensdurst, jedenfalls ist Egberti …«
»… okay, der Genitiv von Egbert oder so.« Walde wollte sich von seiner Übelkeit
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