Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
beigebracht, dass bis Anfang des siebzehnten Jahrhunderts nicht weniger als siebenhundert Pergamenthandschriften entstanden sind, die allesamt verloren gingen«, sagte ich.
»Wenn es nicht Leute wie den Bischof Brynjólfur Sveinsson in Skálholt gegeben hätte, wäre der Schaden noch größer gewesen«, sagte der Professor. »Er war einer der ganz wenigen Männer seiner Zeit, die einen Sinn darin sahen, Handschriften zu sammeln. Er gelangte in den Besitz von Flateyjarbók . Wo wäre diese Handschrift jetzt, wenn er sich nicht über ihren Wert im Klaren gewesen wäre?«
»Und der Codex Regius , die älteste Quelle über die nordische Mythologie und Dichtung. Er hat sie vor dem Verderben bewahrt«, fügte ich hinzu.
»Der kostbarste Schatz unserer Nation«, sagte der Professor. »Die alte Spruchdichtung und das Lied der Seherin – und dann diese großartigen Heldengedichte über Sigurd den Drachentöter, Brynhild, Gunnar und Högni, das Rheingold. Eine unschätzbare Kostbarkeit, unschätzbar, Valdemar! Unser wertvollster Besitz. Unser Beitrag zur Weltkultur! Wir haben keine Akropolis, weil unsere Vorzeit sich nicht in Steinen, sondern in Worten manifestiert hat!«
Ich merkte, dass es sein vollster Ernst war. Mir war natürlich ebenfalls klar, dass wir ohne den Codex Regius um eine ganze Kulturwelt ärmer wären. Wenn es ihn nicht gäbe, wäre ein großer Teil unserer alten Kultur verloren gegangen, und unsere Kenntnisse über die nordische Götterwelt wären sehr viel dürftiger.«
»Ohne diese Handschrift könnten wir uns kaum ein Bild von unserer Vorzeit machen«, pflichtete ich ihm bei.
»Ohne den Codex Regius wüssten wir kaum etwas über den Stellenwert der Rache in der altnordischen Vorstellungswelt. Die Handschrift ist unschätzbar kostbar. Andere Texte sind uns in verschiedensten anderen Codices überliefert,die Edda aber existiert nur in dieser einen Handschrift, die all dieses Wissen enthält.«
Ich fragte, ob es nicht Himmler gewesen wäre, der behauptete, dass die Wurzeln des Germanentums im Norden lägen und man Überbleibsel einer arischen Herrenrasse auf Island finden könnte.
»Läppchen war genau dieser Auffassung«, antwortete der Professor. »Er glorifizierte die alte Heldengesinnung, die in den Liedern der Edda zum Ausdruck kommt. Ihm ging es aber letzten Endes nur darum, jungen Soldaten den Willen zum Sieg einzuflößen. Er war natürlich auch einer von denen, die von der Vorstellung einer Weltherrschaft träumten, die nicht auf der Kultur des Mittelmeerraums und auf dem Christentum basierte, sondern auf der germanischen Vorzeit. Für diese Leute war die Edda so etwas wie eine Bibel. Aus politischen Gründen wollten sie den Deutschen diese sogenannte ›heldische Gesinnung‹ der nordischen Vorzeit einbläuen, und aus der Edda sollte die Inspiration kommen, um eine ganzen Nation so kriegslüstern zu machen, dass sie mit geschwellter Brust in den Kampf zog.«
Ich erinnerte mich an das Buch, das ich tags zuvor auf dem Schreibtisch des Professors gesehen hatte: »Die Edda, Sonderausgabe für die Hitlerjugend«.
»Was für eine Vorstellungswelt«, sagte ich.
»Du weißt kaum etwas darüber«, sagte der Professor.
»Aber die Dänen, glaubst du wirklich, dass sie uns die Handschriften irgendwann zurückgeben werden?«
»Diese Dänen behaupten seit neuestem, dass die Handschriften gar nicht isländisch sind, sondern etwas, was sie ›gemeinnordisch‹ nennen«, sagte der Professor und konnte seinen Unmut darüber kaum verhehlen. »Sie sagen allen Ernstes, dass sie aus purem Zufall auf Isländisch niedergeschrieben wurden. Zufall! Hast du jemals so etwas Albernes gehört? Sie behaupten, wir wären überhauptnicht imstande, sie aufzubewahren, weil wir weder die technischen Voraussetzungen noch das akademische Niveau dazu hätten. Was soll man auf solches Geschwätz antworten? Als ob wir sie nicht genau so gut erforschen und edieren könnten wie sie, vielleicht sogar noch besser! Bist du schon einmal hier in der Königlichen Bibliothek gewesen?«
Ich bejahte das.
»Dort würde ein winziger Funke genügen, um alles in Rauch und Flammen aufgehen zu lassen«, sagte der Professor. »Alles holzverkleidet. Und diese Leute behaupten, dass wir unfähig seien, die Handschriften aufzubewahren!«
»Wenn ich es richtig verstehe, betrachten die Dänen die Handschriften als ihr eigenes nationales Erbe«, sagte ich. »Genau wie die Kunstgegenstände im Nationalmuseum und im
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