Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
Professor sprang auf.
»Jörgensen, R.«, las ich aus dem Buch vor. »Allein reisend, soviel ich sehen kann.«
»Lass mich sehen«, sagte er.
Ich reichte ihm die Passagierliste. Er ging sie durch und hielt beim Namen Jörgensen inne.
»Jörgensen«, flüsterte er. »Warum ist mir das nicht eingefallen? Natürlich! Natürlich Jörgensen. Das muss er sein. Es muss Jörgensen sein!«
Der Professor war sichtlich erregt.
»Was ist das für ein Jörgensen?«, fragte ich.
»Er war Büchersammler«, antwortete der Professor. »Sie kannten sich, dieser Jörgensen und Baldvin Thorsteinsson. Es kann gut sein, dass wir hier auf etwas gestoßen sind, Valdemar, auf etwas sehr Wichtiges. Falls er das ist. Falls es sich tatsächlich um R.D. Jörgensen handelt, sind wir möglicherweise einen Schritt weitergekommen. Einen Schritt weiter, Valdemar! Er war Mitglied einer besonderen Loge im neunzehnten Jahrhundert. Er ist nach Island gereist. Vielleicht war er es, der da in Hallsteinsstaðir war.«
»Hallsteinsstaðir?«
Der Professor schaute auf seine Uhr.
»Wer ist dieser Baldvin?«, fragte ich.
»Später, Valdemar. Komm jetzt, wir schaffen es noch zum Nachmittagszug nach Hirtshals. Schnell, schnell, wir dürfen keine Zeit verlieren! Wir müssen noch heute über den Skagerrak!«
Der Professor wusste einiges über Ronald D. Jörgensen. Es handelte sich um einen dänischen Büchersammler. Er war dänisch-isländischer Abstammung und hatte seinen isländischen Namen Runólfur in Ronald abgeändert. Geboren in Hofsós, Mutter isländisch. Sein Vater hatte einen Handelsladen in Hofsós, zog aber mit seiner Familie nach Dänemark, als Ronald zwanzig war. Ronald D. Jörgensen studierte Jura an der Universität in Kopenhagen, ging aber nach Deutschland und ließ sich in Schwerin nieder. Bei seinem Tod hinterließ er eine enorme Bibliothek, denn er war ein passionierter Sammler gewesen. Er hatte eine Zeit lang in militärischen Diensten gestanden und bekleidete den Rang eines Obersten. Der Professor wusste, dass Jörgensen einer Loge angehört hatte, die kurz vor Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland gegründet worden war und sich nach Odin benannt hatte. In Deutschland interessierte man sich seit der Romantik verstärkt für die mittelalterlichen Texte aus Island. Viele Deutsche waren davon überzeugt, dass die nordische Götterwelt zum deutschen Kulturerbe gehörte, und suchten nach verwandtschaftlichen Banden zu den nordischen Nationen. Ronald D. Jörgensen war einer von denen, welche die Götterwelt der Eddalieder als Bestandteil deutscher Mythologie betrachteten, und sein brennendes Interesse richtete sich darauf, die altisländische Literatur für nationalistische Bestrebungen in Deutschland zu vereinnahmen. Dem Professor war bekannt, dass er 1876 bei der Uraufführung von Wagners Ring des Nibelungen in Bayreuth anwesend gewesen war.
Der Professor war sich ziemlich sicher, dass Jörgensen im späteren Verlauf seines Lebens nicht mehr in Island gewesen war. Der Büchersammler starb im Alter von fünfundfünfzig Jahren an Krebs.
Er hatte zwei Söhne, und den letzten Informationen des Professors zufolge lebte der eine von ihnen noch, und zwar in Kristiansand in Norwegen.
Das alles erzählte mir der Professor im Zug auf dem Weg nach Hirtshals an der Nordspitze von Jütland, wo wir dann die Fähre nach Norwegen erreichten. Die Überfahrt war bei scharfem Nordwind ziemlich unruhig, und wir sprachen wenig miteinander. Der Professor schlief die meiste Zeit, während ich las.
Der Professor hatte mich gebeten, zu seiner Unterstützung mitzukommen, aber ich wusste nicht genau, worin diese Unterstützung bestand. Ich hatte ihm gezeigt, was ich konnte, und unter Beweis gestellt, dass ich imstande war, alte Briefe und Handschriften zu lesen. Später kam mir der Gedanke, dass er vielleicht Angst vor diesen Deutschen im Hviids Vinstue hatte. Er war sehr auf der Hut, wo immer wir auch hingingen, und blickte sich häufig um. Doch damals machte ich mir deswegen kaum Gedanken. Er sagte auch nichts dazu, vielleicht wollte er mir nicht unnötig Angst machen. Im Nachhinein bin ich fast sicher, dass er sich ganz einfach nicht traute, allein zu reisen.
Am nächsten Morgen setzten wir uns nach der Ankunft in Kristiansand in ein Lokal beim Hafen, und der Professor suchte im Telefonbuch nach dem Namen von Jörgensens Sohn. Wir fanden Name und Adresse und erkundigten uns bei der Wirtin, wie man zur Torsgate Nummer 15 käme. Die Frau war
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