Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
gelang es uns, den Deckel herunterzuheben, und vor uns lagen die sterblichen Überreste des Büchersammlers und Mörders Ronald D. Jörgensen.
Der Professor nahm die Laterne zur Hand und hielt sie über den Sarg. Das fleischlose Skelett steckte in einer Paradeuniform, die allerdings durch die lange Zeit im Sarg sehr gelitten hatte. Am schrecklichsten waren die leeren Augenhöhlen und die starken Zähne, die für mich ein seltsames, beinahe teuflisches Grinsen zu bilden schienen. Geschieht euch recht, schien es zu besagen, euch beiden Isländern, die Schande wird euch für den Rest eures Lebens anhängen und kann durch nichts getilgt werden. Ich schauderte und sah den Professor an. Der schenkte dem Skelett keinerlei Beachtung, wohl aber dem, was zwischen den zusammengekrallten Fingerknochen über dem Becken lag: ein metallenes Kästchen, das Ronald D. Jörgensen mit ins Grab genommen hatte.
Der Professor griff danach, um den Kasten an sich zu nehmen, aber Ronald war keineswegs bereit loszulassen und hielt ihn fest umkrallt. Ich bemerkte einen schweren goldenen Ring um den Knochen, der einmal zum Ringfinger gehört hatte. Als der Professor den Behälter endlich in der Hand hatte, kam ihm der ganze rechte Arm des Besitzers samt Ärmel entgegen. Man hörte ein leises Knacken, als sich der Arm aus dem Schultergelenk löste. Der Ring fiel scheppernd auf den Boden. Der Professor hob den Ring auf und legte ihn auf die Uniform. Ich hielt den Atem an,aber der Professor wirkte völlig ungerührt und legte den Arm wieder zurecht.
»Na also«, sagte er und schlug das Zeichen des Kreuzes über dem Sarg.
Ich war heilfroh, als sich der Deckel wieder an Ort und Stelle befand und wir den Anblick des Skeletts los waren, die leeren Augenhöhlen und das grinsende Gebiss.
Ich machte mich daran, die Beschläge am Deckel zu befestigen, und dann schoben wir den Sarg gemeinsam wieder an seinen Platz. Die Grabplatte brachten wir ebenfalls wieder an, so gut wir konnten. Der Professor war vor mir draußen und ließ sich mit der Laterne und dem Kästchen, das Ronald D. Jörgensen mit seinen Todeskrallen umklammert hatte, bei einem imposanten Holzkreuz nieder. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, während ich die kupferne Tür zur Gruft wieder verschloss. Am liebsten hätte ich den Friedhof so schnell wie möglich verlassen, aber ich musste mich nach dem Professor richten. Er hatte lange auf diesen Augenblick gewartet.
Geraume Zeit saß er regungslos mit dem Behälter in der Hand und starrte ihn wie in Trance an. Ich überlegte, ob er vielleicht Angst davor hatte, das Kästchen zu öffnen. Vielleicht befürchtete er, dass sich sein Traum am Ende doch nicht erfüllen würde. Dann sah ich aber, wie er versuchte, den Deckel mit den Händen zu entfernen, doch das gelang ihm nicht. Er holte ein kleines Taschenmesser aus der Hosentasche und schob die Klinge unter den Deckel. Der Professor mühte sich lange damit ab, ihn hochzubekommen. Mir war klar, dass er vorsichtig vorgehen und nichts zerstören wollte. Ich blickte noch einmal zu der Grabstätte hinüber. Wir hatten versucht, alles so zu hinterlassen, dass niemand etwas bemerken würde, aber ich befürchtete, dass es niemand entgehen konnte, welch schrecklicher Frevel hier begangen worden war.
Ich stand mit Hammer und Meißel in den Händen neben dem Professor und sagte ihm, dass wir so schnell wie möglich den Friedhof verlassen und den ersten Bus Richtung Norden nehmen sollten. Ich glaube, dass er gar nicht hörte, was ich sagte. Er hatte es geschafft, den Behälter zu öffnen, der Deckel lag neben ihm auf der Erde. Wir starrten auf den Inhalt. Ich glaubte, ein Stück Tuch zu erkennen. Eine ganze Ewigkeit verstrich, bis er die Hand hob, das Tuch vorsichtig herausnahm und auf sein Knie legte. Als er es auseinanderfaltete, kamen einige lose Pergamentseiten zum Vorschein, sehr dunkel, doch die Schrift war deutlich.
Der Professor holte im Schein der Laterne tief Atem.
»Kann es wirklich wahr sein?«, stöhnte er.
Ich sah, dass er die Seiten zählte.
»Ich glaube, es können die verschollenen Seiten sein, die Lücke im Codex Regius , Valdemar!«
»Haben wir sie gefunden?«
»Das sind die Seiten«, erklärte der Professor und betrachtete forschend die Schrift.
»Sind es acht?«, fragte ich ergriffen.
Er erhielt keine Zeit zu einer Antwort. Urplötzlich hörte ich ein Rascheln hinter mir, und meine Nackenhaare sträubten sich. Ich wagte nicht, mich umzublicken.
»Ah, der Herr
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