Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
befahl ihnen, Emma ins Verhörzimmer zu bringen. Kurt verließ den Raum.
»Ich weiß nichts über die Edda«, beharrte der Professor.
»Das wird sich zeigen, Herr Professor«, sagte von Orlepp. »Ich sage die reine Wahrheit. Und selbst wenn ich etwas darüber wüsste, dürfte ich sie dir nicht aushändigen. Das weißt du.«
»Was meinen Sie damit, selbst wenn Sie etwas wüssten?« »Ich kann dir die Handschrift nicht geben«, sagte der Professor. »Sie gehört mir nicht und genauso wenig dir. Sie ist im Besitz einer ganzen Nation, meiner Nation. Sie gehört den Isländern. Außer ihnen kann niemand Anspruch darauf erheben, sie zu besitzen.«
»Was für ein himmelschreiender Unsinn«, erklärte von Orlepp. »Soweit mir bekannt, ist die Handschrift im Besitz des dänischen Königs. Mir ist völlig schleierhaft, weshalb Sie auf einmal seine Interessen wahren wollen!«
Die Tür öffnete sich erneut, und Kurt führte Emma herein. Sie war in einem entsetzlichen Zustand und schien kaum bei Bewusstsein zu sein. Ihre Blicke irrten zwischen den vier Männern im Verhörzimmer hin und her, und zum Schluss blieben sie an dem Professor haften.
»Hilf mir«, flüsterte sie.
»Wo ist die Edda?«, fragte von Orlepp und sah auf seine Uhr. »Meine Zeit ist kostbar.«
Der Professor konnte seine Augen nicht von Emma lösen, die blutüberströmt neben Kurt an der Wand kauerte und ihn bettelnd mit schmerzverzerrtem Gesicht anblickte. Es hatte den Anschein, als wüsste sie von der Alternative, vor die man den Professor gestellt hatte.
Von Orlepp nickte Kurt zu. Der zog eine Pistole aus dem Halfter unter seinem Jackett und richtete sie auf Emmas Stirn.
Der Professor erhob sich instinktiv.
»Tut das nicht«, sagte er.
»Was tun? Was? Wir? Wir tun doch überhaupt nichts, sondern bloß Sie. Sie bestimmen den Lauf der Dinge, Herr Professor. Bitte sehr – tun Sie das, was auch immer Sie möchten.«
»Du kannst mich nicht in eine solche Zwangslage bringen.«
»Das habe ich bereits getan.«
»Ich weiß nicht, wo sich die Handschrift befindet«, sagte der Professor.
»Also schön«, erwiderte von Orlepp, »dann hilft es eben nichts.«
Er wandte sich an Kurt.
»Erschießen!«
»Professor!«, schrie Emma.
Kurt trat mit gezückter Pistole einen Schritt zurück.
Jeder Moment war wie eine ganze Ewigkeit, und tausend Jahre lagen in jedem Bruchteil der Sekunde, bevor der Schuss losgehen würde. Der Professor sah, wie sich Kurts Finger am Abzug krümmte. Emma sank zu Boden. Tausend Jahre glitten an seinem inneren Auge vorbei.
»Ich bewahre die Handschrift bei mir auf«, ächzte der Professor.
»Was?«, sagte von Orlepp.
»Lasst das Mädchen frei«, sagte der Professor, »Ich sehe zu, was ich tun kann.«
»Zusehen, was Sie tun können? Ich fürchte, das reicht in diesem Fall keineswegs aus.«
»Ich werde sie euch geben. Lasst das Mädchen frei.«
»Erst gehen wir und holen sie«, sagte von Orlepp. »Sie kommen mit uns, Herr Professor. Sie wird verschont, wenn ich die Handschrift in den Händen halte. Los! Los jetzt!« Der Professor wurde aus dem Verhörzimmer geführt. Zwei Aufseher übernahmen Emma. Er konnte nicht sehen, wohin sie mit ihr gingen. Der Professor setzte sich mit von Orlepp und den beiden Gestapo-Leuten in einen schwarzen Mercedes, und sie fuhren auf dem kürzesten Weg ins Universitätsviertel und hielten vor der Universitätsbibliothek. Sie folgten ihm durch die menschenleere Bibliothek bis zur Tür des Instituts. Er nahm den Schlüssel vom Haken und öffnete die Tür. Drinnen ging er zu einemkleinen Schreibtisch, an dem er seinen Arbeitsplatz hatte. Er zögerte einen Moment und wandte sich an Erich von Orlepp.
»Ich bitte dich, dieses Buch nicht zu nehmen«, sagte er.
»Halten Sie mich nicht auf, Herr Professor«, sagte von Orlepp.
»Du kannst alles andere bekommen.«
»Ich habe kein Interesse an etwas anderem. Wo ist sie? Wo ist die Edda?«
Der Professor sah ihn und die Gestapo-Leute, die hinter ihm standen, lange an. Er konnte den Anblick von Emma nicht vergessen. Dann bückte er sich, griff in ein Bücherregal, nahm einige Bücher heraus und legte sie auf den Boden. Dahinter lagen drei Bücher waagerecht. Das unterste steckte im Schutzumschlag eines isländischen Romans, der Islandglocke von Halldór Laxness. Er nahm das Buch zur Hand, entfernte den Schutzumschlag und starrte mit gebrochenen Augen auf den Codex Regius . Die Handschrift war nicht viel größer als ein normales Taschenbuch.
Mit zitternden
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