Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
Händen reichte er sie von Orlepp.
»Ich bitte dich, dieses Buch nicht zu nehmen«, wiederholte er.
Von Orlepp nahm die Handschrift vorsichtig entgegen.
»Wozu diese Empfindlichkeiten?«, sagte er und öffnete den Codex behutsam.
»Das ist nicht irgendeine Handschrift«, sagte der Professor mit all dem Nachdruck, den er in seine Stimme zu legen vermochte. »Was du gerade von dir gegeben hast, zeigt, dass du in jeder Hinsicht unwürdig bist, sie überhaupt in den Händen zu halten.«
Erich von Orlepp sah ihn an.
»Unwürdig? Finden Sie, dass ich unwürdig bin?«
»Du kannst dieses Buch nicht nehmen!«, sagte der Professor.
»Bist du irgendwie damit weitergekommen, die verschollenen Seiten der Lücke wiederzufinden?«, fragte von Orlepp, der jetzt wohl keinen Grund mehr sah, den Professor zu siezen.
»Nur ein wenig«, sagte der Professor.
»Sie sind enorm wichtig.«
»Ich bezweifle, dass sie jemals wieder zum Vorschein kommen werden.«
»Das werden wir sehen«, sagte von Orlepp und strich mit den Fingern über die Seiten der Handschrift. »Ich würde mit diesem Buch in den Händen sterben wollen«, flüsterte er so leise, dass der Professor es kaum hörte.
Dann wandte er sich den beiden Gestapo-Beamten zu. »Bringt ihn zurück ins Hauptquartier. Ich werde mich noch ein wenig hier im Institut umsehen. Schickt mir anschließend den Wagen wieder her.«
»Und was ist mit dem Mädchen, Herr von Orlepp?«, fragte der eine der Männer, von dem der Professor nicht wusste, wie er hieß.
»Was für ein Mädchen?«
»Emma«, antwortete der Mann, »sie heißt Emma.«
»Ist sie nicht in der Widerstandsbewegung?«, fragte von Orlepp, ohne seine Blicke vom Codex Regius abzuwenden. »Da braucht ihr mich doch nicht zu fragen. Erschießen.« »Erich!«, schrie der Professor, »das kannst du nicht tun!« »Du hast keine Ahnung, was ich tun kann und was nicht.« »Und was ist mit dem Professor?«, fragte der Namenlose. »Ihr braucht Informationen. Ihr wisst, wie ihr sie aus ihm herausholen könnt.«
Kurt führte den Professor aus dem Institut heraus, und der Namenlose packte ihn beim anderen Arm. Er war wie betäubt und ließ sich widerstandslos von ihnen abführen. Sie setzten ihn ins Auto und brausten davon.
Den Rest des Tages verbrachte er in seiner Zelle. Er dachtedie ganze Zeit an Emma. Es war ihm nicht gelungen, ihr Leben zu retten. Zwar gab er die Hoffnung nicht auf, aber im Innersten wusste er genau, wie gering die Wahrscheinlichkeit war, dass sie die Nacht überleben würde. Sein eigenes Schicksal war ihm vollkommen gleichgültig. Er hatte den Codex Regius , das Buch Islands, aus der Hand gegeben. Auch wenn es unmenschliche und grausame Umstände gewesen waren, wusste er nicht, ob er mit dieser Schande je leben konnte. Er versuchte, die Angst um Emma zu verdrängen, und seine Gedanken kreisten nunmehr darum, dass er alles daransetzen musste, die Handschrift zurückzuholen, wenn der Krieg vorbei war.
Am nächsten Morgen wurde er nach kurzem, unruhigem Schlaf geweckt und die Treppe zu dem gleichen Verhörzimmer, in dem er tags zuvor gewesen war, hinuntergeführt. Sie banden ihn gerade wieder am Stuhl fest, als die erste Bombe auf das Shell-Gebäude niederging. Er dachte zuerst, dass es sich um ein heftiges Erdbeben handelte. Der Lärm war ohrenbetäubend. Das Gebäude erbebte in seinen Grundfesten, und er wurde zu Boden geschleudert.
»Seitdem habe ich etwas gegen das Siezen«, sagte er. Wir hockten immer noch in unserer finsteren Gefängniszelle in Schwerin und harrten der Dinge, die da kommen würden.
»Was ist dann passiert?«, fragte ich.
»Am 21. März 1945 flogen die Engländer auf Ersuchen der dänischen Widerstandsbewegung einen Luftangriff auf das Hauptquartier der Gestapo«, sagte der Professor. »Das Gebäude wurde völlig zerstört. In dem Chaos, das daraufhin entstand, gelang es mir zu fliehen, und ich tauchte eine Weile bei der Schwester von Gitte in Kopenhagen unter. Kurze Zeit später war der Krieg, was Dänemark betraf, vorbei. Die Nazis waren allenthalben auf dem Rückzug. Ichweiß, dass Erich von Orlepp nach Südamerika geflohen ist, wie so viele von diesen Nazi-Memmen. Ich kann es mir nicht anders vorstellen, als dass er den Codex Regius dorthin mitgenommen hat, und höchstwahrscheinlich befindet sich die Handschrift jetzt in seinen Händen, auch wenn sein Sohn Joachim etwas anderes behauptet. Aber realistisch betrachtet habe ich nicht die geringste Ahnung, wo sich der Codex momentan
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