Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
dass er sein Lebensglück wiederfand. Es fiel mir nicht ein, ihn darauf hinzuweisen, wie unrealistisch es war, diesen winzigen Hinweis schon als Sieg zu betrachten. Wenn der Professor eine Weile froh sein konnte, hatte ich nicht vor, ihm diese Freude zu vergällen. Er war immer davon ausgegangen, dass von Orlepp den Codex Regius niemals veräußert hätte, nicht einmal in einer Notlage; jetzt hatte sich aber möglicherweise etwas anderes herausgestellt. Er argumentierte mit der Behauptung des Russen, dass der Nazi angeblich reich gewesen war. Er kam immer wieder zu dem gleichen Ergebnis. Erich von Orlepp hatte noch in den letzten Kriegstagen Kunstobjekte verkauft und sich dabei unter anderem mit einem antiquarischen Buchhändler, der gute Kontakte zu Bibliophilen in aller Welt hatte, in Verbindung gesetzt. Dieser Antiquar musste den Wert des Codex Regius ganz genau gekannt haben, sonst hätte sich von Orlepp nicht an ihn gewandt. Der Professor war der Meinung, dass dieser Mann das Buch höchstwahrscheinlichnicht selbst gekauft, sondern nur als Zwischenhändler fungiert hatte. Falls es uns gelingen würde, ihn ausfindig zu machen, könnte er uns etwas über den Verbleib der Handschrift sagen. Möglicherweise befand sie sich immer noch in Deutschland. »Das wäre natürlich am besten«, sagte der Professor. Er ging sogar so weit, Überlegungen anzustellen, wie wir das Buch wieder an uns bringen könnten, wobei er Diebstahl keineswegs auszuschließen schien. Er hörte sich so an, als habe er die Handschrift schon so gut wie sicher wieder in den Händen. In dieser langen Nacht, als wir uns von dem Russen verabschiedet und endlich in unsere Pension zurückgekehrt waren, spürte ich mehr denn je zuvor, wie er danach fieberte, sie wiederzufinden.
»Sobald es hell wird, müssen wir nach Berlin«, sagte der Professor mit ernster Miene. »Ob es wohl von hier eine direkte Bahnverbindung gibt?«
Ich war auf mein Bett gefallen, als wir in unser Zimmer kamen, und er setzte sich auf einen Stuhl mir gegenüber und fingerte so hektisch wie nie zuvor an seiner Schnupftabaksdose herum.
»Ich war der Meinung, dass ich mit den meisten Buchhändlern gesprochen hätte, als ich nach dem Krieg in Berlin war«, sagte er sichtlich erregt. »Ich meine mit allen, die antiquarische Bücher kauften oder sammelten. Keiner von denen konnte sich daran erinnern, dass der Codex Regius auf dem Markt war. Aber die können mir natürlich auch etwas vorgelogen haben. Es gibt nichts Verlogeneres auf der Welt als Antiquare, Valdemar.«
Er öffnete die Dose und nahm eine ordentliche Prise.
»Du glaubst also nicht mehr, dass von Orlepp die Handschrift noch in seinem Besitz hat?«
»Nein, nicht, wenn er sie zu Geld gemacht hat, Valdemar. Das ist der springende Punkt. Und wenn die Handschrift nicht mehr in seinem Besitz ist, eröffnen sich diverseOptionen, die ich bislang nicht für möglich gehalten habe.«
»Dann weiß dieser Joachim also wirklich nicht, was sein Vater damit gemacht hat, oder?«
»Es hat nicht den Anschein.«
»Aber es würde doch für den Sohn ein Leichtes sein, denjenigen ausfindig zu machen, der dem Alten diesen Codex damals abgekauft hat. Falls das denn tatsächlich passiert ist.«
»Ich weiß nicht, was damals wirklich passiert ist, Valdemar. Vielleicht wird das aber noch ans Licht kommen. Ich habe keineswegs die Antworten auf alle Fragen. Wir haben hier möglicherweise einen Hinweis, dem es sich lohnt nachzugehen, mehr nicht. Wir wollen dem nicht zu viel Bedeutung beimessen, aber auch nicht zu wenig. Wir nehmen ihn für das, was er ist. Wir gehen ihm nach und finden heraus, ob es zu etwas führt.«
Ich konnte mich dennoch nicht zurückhalten: »Hätte nicht eine Kostbarkeit wie der Codex Regius längst zum Vorschein kommen müssen, wenn sie in den Händen eines gewöhnlichen Büchersammlers gelandet wäre?«
Ich wollte ihm die Freude nicht verderben, aber ich wollte auch nicht, dass er sich allzu unrealistische Hoffnungen machte. Ich konnte nicht glauben, dass dieser erdgebundene, hochintelligente Mann bereit war, sämtliche Vernunft über Bord zu werfen, dieser Mann, der einzig und allein an die Macht des Verstandes glaubte und sich nie gestattete, irgendwelche Luftschlösser zu bauen.
»Ganz und gar nicht«, antwortete er. »Solche Leute prahlen nicht mit ihren Besitztümern – und auf keinen Fall bei so einem kostbaren Objekt, von dem man nicht weiß, ob es auf legale Weise erworben wurde. Alle ernst zu nehmenden
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