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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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jugendlicher Instinkt uns sagte, dass unsere Familien es von
uns erhofften und erwarteten. Trotzdem war ich mir von dem Moment an der
Unterschiede zwischen uns zunehmend bewusster geworden.
    Während ich an der Zufahrt zur
Schule vorbei den Hügel hinauffuhr, kam eine Erinnerung zurück. Chris und ich
waren elf; seit ein paar Wochen ging jeder auf seine neue Schule. Er war mich
besuchen gekommen, wir unterhielten uns im Garten, er fragte mich über Waseley
aus und sagte: »Wie sind die Master dort?« Ich wusste nicht gleich, was er
meinte, und brauchte ein paar Sekunden, um drauf zu kommen. »So heißen die bei
euch, Master?« Ein Bild schoss mir in den Kopf: Eine weißhaarige Respektsperson
im Talar ging zwischen den Bankreihen auf und ab und las aufmerksam lauschenden
Schülern lateinische Deklinationen vor - eine Gestalt direkt aus Good-bye, Mr Chips oder einem Billy-Bunter-Roman.
Mich durchlief ein leises Frösteln der Scham - ein Minderwertigkeitsgefühl -,
als mir klar wurde, in welch unterschiedlichen Welten Chris und ich jetzt
lebten.
    Fahren Sie in den Kreisverkehr, erste Ausfahrt.
    Diesmal folgte ich Emmas
Instruktion. Aber ich wollte ihre Geduld noch auf eine weitere Probe stellen.
Direkt hinter dem Old Hare and Hounds Pub bog ich spontan in die Leach Green
Lane ab. Ein paar Sekunden lang schwieg sie, während der Computer versuchte,
sich einen Reim auf das zu machen, was ich da tat, dann sagte sie:
    Biegen Sie nach zweihundert
Metern rechts ab.
    »Ich weiß, was du vorhast«,
sagte ich zu ihr, »aber wir machen jetzt mal einen kleinen Umweg. Ich hoffe,
das ist okay. Wir sind nämlich auf einem Nostalgietrip, und ich glaube kaum,
dass du für so etwas konfiguriert bist.«
    Jetzt rechts abbiegen. Sie gab nicht auf.
    Ich hörte nicht auf sie und
bog links ab. Nach ein paar Hundert Metern sah ich, wonach ich gesucht hatte:
ein graues, rauverputztes Haus, allen Nachbarhäusern zum Verwechseln ähnlich,
vor dem auf einer schmalen Asphaltfläche ein grüner Rover 2000 geparkt war. Ich
hielt gegenüber dem Haus auf der anderen Straßenseite an.
    Nach zweihundert Metern bitte
wenden, schlug
Emma mir vor.
    Ohne den Motor abzustellen,
stieg ich aus dem Wagen und ging herum auf die Beifahrerseite. Ich blieb eine
Weile stehen, an die Beifahrertür gelehnt, und blickte hinüber auf das Haus.
Hier hatten wir von 1967 an dreizehn Jahre lang gelebt. Ich, Mum und Dad. Es
hatte sich nicht verändert, kein bisschen. Ich stand wohl zwei, drei Minuten
leicht fröstelnd in der Märzbrise und betrachtete das Haus, dann stieg ich
wieder ins Auto und fuhr weiter.
    »Tja, was soll ich auch
denken?«, sagte ich mir, als ich das Auto zurück auf die A38 Richtung
Stadtmitte lenkte. »Was soll ich dabei empfinden? Ich hab das Haus seit über
zwanzig Jahren nicht gesehen. Dort bin ich aufgewachsen. Dort hat meine
Kindheit stattgefunden, und wenn ich ehrlich bin, empfinde ich nicht viel.
Meine Kindheit war nichts Besonderes. Wie alles andere an mir, nehme ich an.
Gewöhnlich. Das sollte auf meinem Grabstein stehen. »Hier ruht Maxwell Sim. Er
war eigentlich ein ganz normaler Typ.« Welch ein Epitaph! Kein Wunder, dass
Caroline irgendwann die Nase voll von mir hatte. Kein Wunder, dass Lucy kaum
noch was mit mir zu tun haben will. Was haben wir dreizehn Jahre lang in diesem
Haus getan, wir drei, was nicht Millionen anderer Familien in genau gleich
aussehenden Häusern überall im Land auch getan hätten? Das würde ich gerne
wissen. Und das ist ja wohl nicht zu viel verlangt. Welchen Sinn hat das?
Welchen gottverfluchten Sinn hat das?
    In achthundert Metern fahren Sie in den Kreisverkehr.
Halten Sie sich links und nehmen Sie die erste Ausfahrt.
    Diese Frau hatte auf alles eine Antwort.
     
    13
     
    Folgen sie dem Straßenverlauf für circa drei
Kilometer.
    Ich fuhr jetzt an der alten
Longbridge-Fabrik vorbei. Oder vielmehr an dem klaffenden Loch in der
Landschaft, wo einmal die Longbridge-Fabrik gestanden hatte. Es war eine beklemmende
Erfahrung: Wenn man die Landschaften seiner Vergangenheit besucht, erwartet
man vielleicht ein paar kosmetische Veränderungen, hier und da ein neues
Gebäude, ein paar Fassaden, von denen der Putz bröckelt, aber dies war etwas
ganz anderes - ein ganzes Fabrikgelände, das die gesamte Gegend beherrscht,
sich über mehrere Quadratkilometer erstreckt hatte, pulsierend vom Lärm
arbeitender Maschinen, belebt von den Gestalten Tausender Männer und Frauen,
die die Gebäude betraten und verließen - alles

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