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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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verschwunden. Plattgemacht,
vernichtet. Und jetzt informierte uns eine riesige Bautafel mitten auf diesem
Streifen urbaner Leere darüber, dass hier demnächst wie ein Phönix aus der
Asche ein »gewaltiges Bauprojekt exklusiver Wohneinheiten und Ladengeschäfte«
erstehen und Gestalt annehmen würde - ein utopisches Gemeinwesen, in dem die
Menschen sich nur noch um Essen, Schlafen und Einkaufen kümmern mussten: ein
für alle Mal der Notwendigkeit enthoben, jeden Morgen eine Karte in die Stechuhr
zu stecken und solch gewöhnlichen Tätigkeiten wie dem Herstellen von Dingen nachgehen zu
müssen. Hatten wir in den letzten paar Jahren alle den Verstand verloren?
Hatten wir vergessen, dass Wohlstand eine Basis haben muss, etwas Handfestes,
Materielles? Selbst jemandem wie mir, der in den letzten Wochen nicht viel
mehr gemacht hatte, als sich diagonal durch Zeitungen und Nachrichten-Websites
zu lesen, war ziemlich klar, dass wir da mächtig auf dem Holzweg waren, dass es
nicht mehr als das Nonplusultra angesehen wurde, Fabriken einzureißen, um an
ihrer Stelle Ladenzentren zu errichten, dass es alles andere als sinnvoll war,
eine ganze Gesellschaft auf einem Fundament aus Luft aufbauen zu wollen.
    Folgen Sie dem Straßenverlauf für circa einen Kilometer.
    Ich stellte fest, dass man
nicht mehr durch Northfield fahren musste: Sie hatten Geld für eine neue
Umgehungsstraße zusammengekratzt, die allerdings so neu war, dass Emma noch
nichts von ihr zu wissen schien. Sie kam richtig aus dem Tritt, als ich mir
meinen Weg über Verkehrsampeln und durch Kreisverkehre suchte, und trotzdem
musste ich schon wieder bewundern, wie sie nach furiosen Berechnungen auch die
widersprüchlichsten Ratschläge im selben unerschütterlichen Tonfall vorbrachte.
Was für eine Frau. In Selly Oak kannte sie sich wieder besser aus und leitete
mich virtuos durch die Harborne Lane und die Norfolk Road zur Hagley Road. Um
kurz nach drei war ich dort und checkte im Quality Hotel Premier Inn ein, wo
das Einzelzimmer mit vierzig Pfund allemal im Rahmen von Alan Guests Budget
blieb. Das Zimmer war nicht sehr groß und hatte keine schöne Aussicht, aber es
war gemütlich. Es lag auf der Rückseite im ersten Stock. Es gab einen
Wasserkocher und ein paar Beutel Nescafe, also machte ich mir einen Kaffee und
legte mich für eine halbe Stunde aufs Bett, um mich von der Reise zu erholen.
Ich fühlte mich ein bisschen einsam und spielte mit dem Gedanken, Lindsay
anzurufen, beschloss aber, es mir für den Abend aufzuheben.
    Mr und Mrs Byrne erwarteten
mich frühestens in anderthalb Stunden. Es blieb genug Zeit, um nach King's
Norton auf den Friedhof zu fahren, und das tat ich. Das Grab meiner Mutter war
in gutem Zustand. Ich hatte im Tesco Express ein paar Blumen gekauft und lehnte
sie an den Grabstein. Eine Vase oder etwas in der Art hatte ich nicht. Barbara Sim, 1939-1985, mehr stand nicht drauf. Dad
hatte den Text knapp halten wollen, jedenfalls hatte er das damals zu mir
gesagt. Sechsundvierzig Jahre. Ich war jetzt schon älter. Ich hatte meine
eigene Mutter überlebt. Und trotzdem schien es, als würde ich noch Jahre
brauchen, um mich auch nur halbwegs so erwachsen fühlen zu dürfen, wie meine
Mutter mir vorgekommen war. Sie hatte mich mit zweiundzwanzig bekommen und die
letzten vierundzwanzig Jahre ihres Lebens damit verbracht, mich zu erziehen,
mich in mein Erwachsenenleben zu begleiten, mir in selbstloser Weise ihre Zeit
zu opfern. Sie hatte mich vorbehaltlos geliebt. Sie mag keine besonders kluge
Frau gewesen sein, keine großartige Ausbildung genossen haben, und die Lyrik
meines Vaters hat sie wohl auch nicht verstanden (das ging mir genauso), aber
was die Klugheit des Gefühls anging, war sie ihrem Alter weit voraus.
Vielleicht hatten die Umstände sie gezwungen, so zu werden, oder ihre
Generation, die immer im Schatten des Kriegs gelebt hatte, war ganz einfach
schneller erwachsen geworden als unsere. Was immer der Grund war, ich fühle
Demut (ja, das ist das Wort - kein anderes trifft es besser), wenn ich mich
daran erinnere, was für eine wunderbare Mutter sie war. Wie jämmerlich machen
sich dagegen meine Versuche aus, ein Vater zu sein.
    1939-1985. Das war zu wenig. Wir hätten
mehr auf den Grabstein schreiben müssen, irgendetwas anderes noch.
    Aber was?
     
    »Sie war eine wunderbare Frau,
deine Mum. Donald und ich fanden das immer schon. Es vergeht kaum ein Tag, an
dem wir nicht über sie sprechen.«
    Mrs Byrne goss mir Milch in
den Tee und

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