Coins - Die Spur des Zorns
sicher. Wer will das schon? Ich hab‘ nämlich den ganz starken Eindruck, dass du der nächste sein wirst. Glaub’s mir, Anna: Dein Fünfmarkstück ist schon unterwegs!“
In Anatols Augen spiegelte sich Todesangst. Der richtige Augenblick, Kustow kommen zu lassen. Der sollte erkennen, dass seine Bande am Ende war, ihr Geheimnis nicht mehr lange ein Geheimnis bleiben würde. Er drückte die Taste der Sprechanlage: „Schickt Kustow rein!“ Die plötzliche Blässe in den Gesichtern war Schöller nicht verborgen geblieben. Jetzt kam es darauf an, einen von ihnen aus der Phalanx herauszulösen, das gleichermaßen Sicherheit vermittelnde wie disziplinierende Zusammengehörigkeitsgefühl systematisch zu zerstören. „Tja, Anna. Viel Zeit bleibt dir wohl nicht mehr.“ Schöller ahnte nicht, wie recht er mit dieser Annahme haben sollte.
Pohl hatte, den dampfenden Kaffeebecher in der Rechten, am Küchentisch Platz genommen. Allmählich eignete er sich Schöllers Lebensform an. Er lächelte bei dieser Erkenntnis, prüfte die Bechertemperatur. Zu heiß! Er stellte den Becher ab, fuhr den Laptop hoch, öffnete auf der Bildschirmoberfläche den Ordner ‚Sanda Gang‘. Wieder überlegte er einen Augenblick, was ihn wohl veranlasst haben mag, diese bemerkenswerte Sammlung sogenannter ‚Personalblätter‘ anzulegen. Personalblätter – mein Gott, wie war er nur auf diese Bezeichnung gekommen? Er konnte sich auch jetzt weder erinnern noch ein Erklärung finden. War die Unerträglichkeit der Tatenlosigkeit oder etwa der Rotwein verantwortlich? Keine Antwort. Er schaute auf den Bildschirm. Nur noch Kevin, Anatol, Mecit und Boris Kustow waren gelistet. Kustow schied aus, der wäre als letzter an der Reihe. Grübelnd starrte er auf die anderen Namen. Keffko kam als Informant ebenfalls nicht in Frage. Blieben Anna und Mecit. Welchen Spitznamen hatte Mecit eigentlich? Er war ihm entfallen. Er klickte Mecit an, betrachtete die aufgelisteten Daten:
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Mecit Ünal, Deutscher; ethnischer Türke (Keffko: vor Jahren
mit den Eltern (Obst- und Gemüsehandel, seriös, integriert) eingewandert, in Moers aufgewachsen)
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18 Jahre, 1,76m, auffällig muskulös (aufgrund seiner älteren Vettern seit seiner Kindheit (!) Kraftsportler)
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ohne Schulabschluss, Hilfsarbeiter in einem Schrotthandel
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wohnt in Marxloh zur Untermiete
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Keffko: von der Familie verstoßener Mitläufer, braucht die
Gang als Familienersatz; Spitzname: Grufti (trägt stets
schwarze Kleidung)
Richtig, ‚Grufti‘ war sein Spitzname. Viel hatte er nicht über ihn zusammengetragen. Keffko wusste offensichtlich nicht mehr über Mecit zu berichten. Er klickte Anatol an, begann zu lesen:
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Anatol Geissler, Russlanddeutscher, 19 Jahre, 1,74m, sehr
schlank
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schwul, Spitzname ‚Anna‘ (dürfen nur Gangmitglieder zu
ihm sagen)
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Schulabbrecher, als 15-Jähriger von zu Hause abgehauen,
arbeitslos, Gelegenheitsjobber, verdient seinen Lebensunterhalt überwiegend als Stricher
*
wohnt in Rheinhausen (Hinterhauswohnung, Achtung: empfängt
dort zuweilen Kunden!)
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drogensüchtig (Keffko: hängt extrem an der Nadel; mehrere abgebrochene Entziehungskuren)
*
Minderwertigkeitskomplexe, äußerst aggressiv
Wen von beiden sollte er nehmen? Eigentlich war es egal. Pohl entschied, dies dem Zufall zu überlassen. Es würde sich in dieser Nacht bei Kreuzer ergeben. Er wäre auf beide Fälle vorbereitet, die Komponenten der jeweiligen Hilfsmittel warteten – in ihrer aktuellen Form als Tatwerkzeuge nicht erkennbar – seit Tagen im Hobbykeller auf ihren Einsatz. Er würde halt beide Optionen vorbereiten.
In der Diele läutete das Telefon. Nicht schon wieder Schöller! Pohl erhob sich widerwillig, trat in die Diele und hob ab. „Pohl.“
„Sie wollten doch anrufen!“ Es war Schöller.
„Wollte ich das? Sie sagten, wir telefonieren miteinander …“
„Ist ja in Ordnung! Jetzt tun wir’s ja. Sie waren gestern Nacht nicht zufällig noch bei Kreuzer?“
Was sollte diese Frage? „Nein. Warum fragen Sie?“
„Es wäre empfehlenswert, wenn Sie sich mit Ihren Besuchen dort ein wenig zurückhielten. Ihr Freund aus Belgien wurde vergangene Nacht dort von den Duisburger Kollegen gesichtet. Der mit dem Ami-Truck, Sie erinnern sich?“
„Dachte ich’s mir …“
Mist! Er hatte sich verraten! Wie konnte er nur so blöd sein! Während er noch hektisch nach einer glaubwürdigen Erklärung suchte, fasste Schöller
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