Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
»Wer könnte es sein, wenn jemand davon wüsste?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Wie ich schon sagte, ich weiß gar nichts.«
»Onkel Buddy, sieh mich an«, befahl ich, und als er das tat, wand er sich zwar vor Schmerz, konnte aber den Blick nicht abwenden. »Wer könnte es sein?«
»Ich … ich weiß nicht«, sagte er. »Bitte glaub mir!«
Das tat ich tatsächlich. Als er zu mir hochguckte, sah ich Onkel Buddy als das, was er war – als einen hinterlistigen Betrüger, der mit seiner bitteren Eifersucht dazu beigetragen hatte, dass unsere Familie zerbrach. Mich packte Mitleid, ebenso groß wie mein Zorn, und ich schubste ihn weg und sah mich noch einmal um. »Ich gehe jetzt. Entweder, du machst hier mal sauber, oder du fackelst die ganze Bude ab.«
»Halt, warte!«, rief er, streckte die Hand aus und packte mich am Arm. »Ich kann dir helfen, Sara Jane! Gib mir das Notizbuch! Wenn es das ist, was sie wollen, dann kann doch ich die Zielscheibe sein! Bitte!«
»Lass los, Onkel Buddy«, sagte ich und versuchte, mich loszureißen.
»Gib es mir, verdammt!«, brüllte er, verstärkte seinen Griff und erhob sich aus seinem Sessel. »Ich will es haben! Ich brauche es! Jetzt bin verdammt noch mal ich an der Reihe! Es ist mein …« Aber noch bevor er seinen Satz vollenden konnte, wirbelte ich herum und schlug ihm die Waffe seitlich gegen den Kopf.
Onkel Buddy sank schwer auf seinen Stuhl zurück und klatschte dann mit dem Gesicht in die Froot Loops.
Ich zog seinen Kopf aus der Schüssel, damit er nicht in der klebrigen Milch ertrank.
Ich hasse ihn und will ihn nie wieder sehen, aber er ist trotzdem immer noch mein Onkel.
21
Jetzt wusste ich also, dass Detective Smelt und der Skimaskenmann irgendetwas mit dem Syndikat zu tun haben mussten. Aber ich wusste inzwischen auch (dafür war Onkel Buddy das beste Beispiel), dass eine solche Verbindung nicht zwangsläufig bedeutete, dass man zum Syndikat dazugehörte .
Als Vermittlerin stellte ich außerdem fest, dass das Syndikat nicht nur eine brutale Verbrecherorganisation war, sondern auch eine Klatschfabrik, die Gina Pettagola mit Leichtigkeit in den Schatten stellte. Die härtesten Gangster flüsterten miteinander und übereinander wie ein Haufen schwer bewaffneter Klatschtanten. Wenn die einflussreichen Syndikatsmitglieder gewusst hätten, was Detective Smelt und der Skimaskenmann wussten – dass meine Familie verschwunden war –, dann hätte sich das garantiert herumgesprochen, und auf keinen Fall hätte ich dann noch als Vermittlerin fungieren dürfen. Im Gegenteil, in diesem Fall hätte ich von Glück sagen können, wenn ich noch über zwei gesunde Beine verfügte. Inzwischen war mir völlig bewusst, was mit den Leuten passierte, die das Syndikat für Ratten hielt, und was man mit den Rattenkindern anstellte. Welches Wissen oder welche Insiderinformationen Smelt und der Skimaskenmann haben mochten, welches Ziel sie auch verfolgten, sie operierten nicht innerhalb der Organisation. Aber deswegen wusste ich noch lange nicht, welche Verbindung zwischen ihnen bestand; wie hatten sie davon erfahren, dass es das Notizbuch gab?
Und dann stellte sich mir eine fast noch schwierigere Frage.
Was zieht man zu einem Mafiapalaver an?
Schließlich entschied ich mich für ein konservatives Outfit, ganz in Schwarz – Rock, Bluse, Stiefel –, und stand um zehn vor zwölf an einem trüben Samstag draußen vor einem alten Wolkenkratzer.
Über dem Eingang war der Schriftzug CURRENCY EXCHANGE BUILDING eingegraben, und daneben stand das Baujahr, 1926.
Das Gebäude war hoch, schmal, verrußt und verdreckt, und der Grad der Vernachlässigung ließ vermuten, dass hier schon lange kein Geld mehr gewechselt wurde.
Im Kunstunterricht an der Fep Prep hatten wir einmal eine Tour durch die Innenstadt gemacht und uns die architektonisch bedeutsamen Gebäude angesehen; dabei hatten wir erfahren, dass Chicago tatsächlich die Geburtsstätte des Wolkenkratzers war. Starke Stahlgerüste erlaubten es den Gebäuden, sich bis hoch in die Wolken zu schwingen, so wie das Currency Exchange Building, weit über die Hochbahn hinaus, deren Gleise beinahe die dreckige Fassade des alten Baus berührten. Viele alte Sehenswürdigkeiten in Chicago waren inzwischen perfekt renoviert worden, aber das Bauwerk, vor dem ich jetzt stand, hatte man offenbar vergessen. Vielleicht war es die Lage: Es befand sich eingezwängt zwischen anderen Häusern an einem nicht besonders attraktiven Abschnitt der
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