Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
dabei auf etwas zu stoßen, das mir weiterhelfen würde.
Zuerst las ich, dass sich der Bird Cage Club, in dem ich mich mit Knuckles und seinem Widersacher Strozzini treffen sollte, in einem Wolkenkratzer im Stadtzentrum befand, ganz oben im dreiunddreißigsten Stock. Neben dieser allgemeinen Ortsangabe stand im Buch komischerweise keine genaue Adresse, dafür aber die Warnung, nie durch den Haupteingang einzutreten, sondern die Capone-Tür zu benutzen, die im Friseursalon nebenan versteckt war. Als Nächstes studierte ich das Kapitel » Loro – die anderen«, in dem detailliert die vielen Gruppen geschildert wurden, die als Bedrohung für das Syndikat wahrgenommen wurden, und in dem weiter ausgeführt wurde, wie man diese Gegner meiden oder neutralisieren konnte. Es gab Abschnitte über die Polizei (»Beamtenbestechung«), das FBI (»Einschleusung von Maulwürfen«), die verschiedenen Methoden, sich vor dem Strafvollzug zu drücken (»Simulation von Verrücktheit oder Krebs«), den Umgang mit Ratten (»töten«) und so weiter und so fort. Jeder Abschnitt ging dabei in dieselbe Richtung, zu der auch Doug mir geraten hatte: Wenn alle Stricke reißen, dann sagt man loro – den anderen – am besten direkt den Kampf an.
Um sieben parkte ich ein kleines Stück von unserem Haus entfernt an der Straße.
Die Balmoral Avenue war verlassen, und die Straßenlaternen schalteten sich mit einem Summen aus.
Die .45er war frisch geladen, und ich sicherte die Waffe.
Die Häuser in unserer Straße sind zu hoch und stehen zu weit auseinander, um von einem Dach zum anderen springen zu können, wie ich es bei meiner Rückkehr in die Bäckerei getan hatte. Wenn ich mich durch die Gärten schlich, hätte ich immer wieder freie Rasenflächen überqueren müssen, und davon abgesehen wollte ich auf keinen Fall noch einmal durch unseren dunklen Keller laufen. Letztlich gab es keine sichere Möglichkeit, sich dem Haus zu nähern – es war alles riskant –, und daher hob ich die Pistole, überquerte die Straße und stieg die Stufen zur Haustür hinauf. Ich hatte mich darauf vorbereitet, sie einzutreten, aber das war nicht nötig; die Tür schwang leicht auf. Ich war nicht mehr in unserem Haus gewesen, seit ich im strömenden Regen vor dem Skimaskenmann geflohen war. Jetzt hatte ich eine Waffe, und vor allem war meine Toleranzschwelle ziemlich gesunken, falls mir irgendjemand blöd kommen wollte. Onkel Buddy und Greta hatten sich unser Haus unter den Nagel gerissen – unser verdammtes Haus! –, und jetzt würden sie mir alles erzählen, was sie über meine Familie wussten, sonst würde etwas passieren. Jegliche Hemmungen, die ich bei dem Schuss auf den Freak noch empfunden haben mochte, waren inzwischen verschwunden wie Rauch in einem Kamin.
Ich trat in den Flur, umklammerte die Waffe mit beiden Händen und richtete sie, so wie die Cops im Fernsehen, nach links und nach rechts. Dann erstarrte ich.
Vor mir entfaltete sich ein Spottbild der Szenerie, die ich hier das letzte Mal erblickt hatte. Es herrschte völliges Chaos; allerdings gab es keine Anzeichen mehr für Zerstörung und Gewalt. Die Jalousien waren heruntergelassen, die Vorhänge zugezogen, und im Haus roch es eklig nach alten Socken und kaltem Rauch. Überall stapelten sich leere Pizzapappen, fettige Styropor-Behälter vom Imbiss sowie jede Menge zerdrückter Bierdosen, leerer Schnapsflaschen und überquellender Aschenbecher.
Genau wie letztes Mal durchdrang ein Geräusch das dämmrige Licht.
Es war ganz deutlich eine Stimme, die sprach, innehielt, etwas wiederholte.
Sie klang verzweifelt, und sie kam vom Fernseher.
Ich ging zum großen Flachbildschirm, vor dem ich so oft mit meiner Familie gesessen hatte, um mir Filme anzusehen, und erkannte die Szene sofort: Ein Mann, schlaksig und abgekämpft, saß auf einem niedrigen Ruhesessel und attackierte matt einen kleineren, dunkleren Mann, der kalt lächelnd vor ihm stand. Die DVD hing und zeigte immer wieder denselben Ausschnitt, in dem der Mann auf dem Sessel sagte: »Ich bin dein älterer Bruder, ich bin übergangen worden! … Ich bin dein älterer Bruder, ich bin übergangen worden! … Ich bin dein älterer Bruder, ich bin übergangen worden! …«
Ich nahm die Fernbedienung und drückte eine Taste, die Szene lief weiter, und der Kleinere sagte nun: »Es war Papas Wunsch.«
Der schlaksige Mann fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und rief aufgebracht: »Ja, aber mein Wunsch war es nicht! Ich kann auch was tun,
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