Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
er höflich und sensibel mit ihnen sprach, sozusagen auf Augenhöhe, dann würden sie darauf reagieren. Als er sich dann bereit für eine echte Herausforderung fühlte, gingen wir ins Tierheim und fragten nach einem Hund mit besonders schlechtem Charakter und besonders hässlichen Verhaltensweisen. Daraufhin brachte man uns Harry, der vernarbt und mit gefletschten Zähnen an seiner Leine zerrte. Vielleicht hatte Lou recht und Tiere verstehen die Menschensprache tatsächlich, denn Harry hasste mich von dem Augenblick an, da ich ihn ansah und meinen Bruder fragte: »Du willst dieses scheußliche Viech doch nicht etwa mit nach Hause nehmen, Lou?«
Lou überhörte das, lächelte Harry an und streckte ihm die Hand entgegen. »Na, wie geht’s dir denn, mein Guter?«
Harry biss ihn als Antwort in die Finger.
Lou zuckte nicht einmal zusammen, sondern lächelte nur wieder, wenn auch jetzt leicht traurig, und dann sagte er: »Das Leben kann schon hart und manchmal auch komisch sein, was, Kumpel? Aber die Dinge ändern sich. Die Dinge ändern sich immer.«
Es lag so viel Wahrheit in dieser Feststellung, dass sich Harrys Knurren erst in ein leises Grollen verwandelte, dann in ein Winseln, und schließlich legte er die Ohren an und sah aus, als ob er weinen wollte. Lou tätschelte ihm den Kopf. Es war der Anfang einer großen Liebe.
Jedenfalls zwischen den beiden.
Für mich hingegen begann das tägliche Anfletschen. Ich gegen Harry und Harry gegen mich.
Einmal fragte ich Lou, wieso er dem Hund nicht einfach beibrachte, mich zu mögen.
Mein Bruder zuckte die Achseln. »Er ist, wie er ist. Ich kann sein Verhalten ändern, aber nicht, wie er ist. Aus demselben Grund kannst du gut boxen, und ich werde das nie können.«
»Was meinst du damit?«
»Meine Studien besagen, dass die besten Boxer in ihrem Innersten eine Energie oder eine Kraft haben, die in ihnen brennt. Mit dieser Kraft dominieren sie ihren Gegner im Ring. Du hast das, aber ich nicht.«
»Hey, willst du damit sagen, dass in mir verborgene Wut steckt oder sowas?«
»Ich habe nicht von verborgen und nicht von Wut gesprochen. Ich habe innere Kraft gesagt, und es könnte alles einschließen, das stark genug ist, um einen Boxer im Ring anzuspornen. Vielleicht ist das Wut, aber es könnte auch Angst sein oder Unsicherheit oder das Bedürfnis nach Rache. Was auch immer, es glüht wie ein Atomreaktor tief im Innern eines Kämpfers.«
Ich sah Lou an und dachte über seine Theorie nach. »Heißt das, ich bin unsicher?«
»Dazu sag ich nichts«, seufzte er und machte diese italienische »Thema erledigt«-Geste, indem er seine Hände zusammenklatschte wie mein Großvater.
Wir sprachen nie wieder über mein brennendes Innerstes, aber Lou und ich redeten über alle möglichen anderen Dinge. Mein kleiner Bruder hat eine klare Meinung zu den verschiedensten Themen, und noch dazu besitzt er die geradezu unheimliche Fähigkeit herauszufinden, was sein Gegenüber denkt, indem er den Gesichtsausdruck studiert. Deswegen rannte ich an jenem Nachmittag an ihm vorbei in die Küche. Hätte ich angehalten, hätte Lou mir Walter J. Thurber und Mandi Fishbaum an meinem Gesicht ablesen können. Ich war schon fast durch die Schwingtür, als meine Oma rief: »Sara Jane! Nessun bacio per tua nonna e tuo fratello? «
Mein Italienisch war und ist ziemlich mittelmäßig, aber jedes Kind, das auch nur ein bisschen italienisches Blut in sich hat, kennt das italienische Wort für Kuss – bacio . Die Ironie an der Sache war, dass ich gerade wegen eines bacios zehn Straßen weit gelaufen war, und ich musste mich ziemlich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Als ich mir einigermaßen sicher war, dass ich nicht mehr zu heulen anfangen würde, gab ich meiner Oma einen Kuss auf die weiche Wange und küsste auch Lou, der nach Karamell roch. Er sah mich mit kleinen Kekskrümeln auf den Lippen an und sagte: »Du siehst komisch aus.« Er deutete mit dem Keks auf mich. »Ich meine, komischer als sonst.«
»Vielen Dank«, brummte ich und wischte die Krümel mit meinem Daumen von seinem Mund.
»Sara Jane«, sagte er, als ich weiter zur Küche gehen wollte. Ich wandte mich um, und Lou streckte mir den kleinen Finger entgegen. »Alles oder nichts. Okay?«
Diese Geste hatte ich Lou am ersten Tag der Vorschule beigebracht, als er doch ein bisschen kribblig war bei dem Gedanken, in ein Klassenzimmer voller hyperaktiver, kleiner Wirbelwinde hineingehen zu müssen. Damals nahm ich ihn beiseite,
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