Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Onkel Buddy setzte sich auf die Haube seines Cabrios und zog an der Kräuterzigarette, die ihm sein Arzt verschrieben hatte, weil sie nicht krebserregend war und ihm helfen sollte, das Rauchen aufzugeben. Das Gute an den Dingern war, dass das wirklich funktionierte, allerdings verströmten sie einen komischen, süßlichen Geruch, wie eine Komposttonne, die in der prallen Sonne steht. Aber ich erzählte und erzählte, und am Schluss berichtete ich ihm noch davon, was der kleine Max Kissberg über Schwachköpfe gesagt hatte.
»Ein kluger Junge«, sagte Onkel Buddy und schnippte die stinkende Kräuterzigarette weg. Dann zog er die Autoschlüssel hervor und sagte: »Steig ein. Ich will dir etwas zeigen.« Wir sprachen nicht viel, als er durch die Chicagoer Innenstadt fuhr und schließlich an der Michigan Avenue parkte. Wir stiegen die Stufen zwischen den Löwen hinauf, die den Eingang zum Art Institute bewachten, traten ins Innere des kühlen, ruhigen Kunstmuseums und gingen direkt in eine Galerie, durch die nur eine Handvoll schweigender Leute flanierten. Ein riesiges Gemälde beherrschte eine ganze Wand. Onkel Buddy deutete mit einer Kopfbewegung dorthin und sagte: »Es heißt Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte .« Ich hatte das Bild schon einmal zuvor gesehen, als ich mich mit vielen anderen Kindern bei einem Klassenausflug daran vorbeigeschoben hatte, aber jetzt drängte mich mein Onkel, es genauer zu betrachten. Also trat ich vor und sah es mir an, und langsam teilten meine Augen die Darstellung von Ausflüglern am Ufer einer Insel in Millionen winziger, gemalter Punkte. Onkel Buddy erklärte mir dazu, dieses Bild zeige auf hervorragende Weise, dass das Leben aus einer endlosen Reihe kleiner Ereignisse besteht – schmerzhafte Ereignisse oder freudige, alle zusammen machen einen Menschen zu dem, was er ist. »So wie dieses Bild, Sara Jane«, sagte Onkel Buddy, »Punkt für Punkt, so bildest du dich heraus. Geh einfach nur weiter deinen Weg, dann wird alles gut. Vertrau mir.«
Das tat ich. Ich vertraute meinem Onkel, und das war ein Fehler.
Später sollte ich mich noch an seinen Rat erinnern, als ich herauszufinden versuchte, was meinen Eltern und Lou passiert war, und mich verzweifelt darum bemühte, das ganze Bild zu sehen.
Sobald ich die Punkte zu verbinden begann, merkte ich, dass sie so groß waren wie Karamellkekse.
4
Manchmal ändern sich die Verhältnisse innerhalb einer Familie so langsam, wie ein Gletscher abschmilzt, sodass man es kaum bemerkt, bis sich irgendwann die ganze Landschaft verändert hat.
Bei uns trug dieser Gletscher den Namen Greta Kuschtschenko.
Vor ungefähr einem Jahr – ich war fünfzehn – erwähnte Onkel Buddy zum ersten Mal, dass er mit jemandem ausging, was uns alle sehr überraschte. Dieser Jemand war Greta. Schon bald war sie öfter bei uns, nicht immer, nur manchmal, zum Beispiel bei einer Geburtstagsfeier oder beim Abendessen bei meinen Großeltern. Sie war schüchtern, still, schlicht und, wie sie es selbst nannte, bescheiden, was daran lag, dass sie als Kind russischer Einwanderer in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war. Und als dann die Monate ins Land gingen, war sie schließlich regelmäßig anwesend, bei jeder Feier und an jedem Feiertag, und wurde Stück für Stück immer lauter und auffälliger und rechthaberischer. Sie sprach nicht mehr wie ein Mäuschen, sondern laut und herausfordernd, teilte uns ihre Ansichten nicht mehr flüsternd mit, sondern trompetete sie hinaus, und ihr Kleidungsstil wandelte sich von Nonne zu Showgirl. Plötzlich erschien sie mit grellrotem Lippenstift und langen falschen Wimpern, und aus ihrem zuvor ganz dezenten Pagenkopf wurde eine wilde Mähne weißblonder Locken. Selbst ein Außenstehender hätte sofort bemerkt, dass sie ein inoffizielles Mitglied der Rispoli-Familie geworden war.
Für jemanden, der mehr Einblick in die Familienangelegenheiten hatte, so wie ich, war es offensichtlich, dass Greta sich mit diesem inoffiziellen Status nicht zufrieden geben würde.
Ihr Ziel war es, sich mit rüpelhaften Methoden ganz in die Familie hineinzudrängen, wobei sie am liebsten Onkel Buddy verspottete und erniedrigte, bis er vor ihr auf dem Bauch kroch, um ihn dann mit Küsschen zu überschütten, sodass er alles tat, was sie verlangte. Einmal bekam ich mit, wie sie ihm zuraunte, als zweitgeborener Sohn würde er ja auch immer nur als Zweitbester betrachtet, und damit stärkte sie die uralten Befürchtungen, die
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