Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
gingen. Wenn jemand aus der Nachbarschaft fragte, wie es ihr ging, dann füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie griff schweigend zu einem der Bleche, nahm einen herzförmigen Keks und brach ihn mittendurch. Ihr Herz, sagte sie, sehnte sich so nach meinem Großvater, dass es schmerzte. Später sprach sie nur noch von Herzschmerzen, und dann starb auch sie. Sie hatte das Versprechen gehalten, meinem Großvater presto – bald – zu folgen.
Als sie im Mausoleum der Rispolis beigesetzt worden war, hörten mein Dad und Onkel Buddy ganz auf, miteinander zu reden.
Das Schweigen zwischen ihnen wurde so dröhnend laut, dass ich aus der Bäckerei floh, wenn sie beide zur gleichen Zeit in der Backstube waren.
Es war, als sei meine Großmutter das letzte Fundament gewesen, das nach einem Erdbeben übrig geblieben war, und als sie starb, stürzte das ganze Familiengebäude ein.
Schon in der kurzen Zeit zwischen den beiden Todesfällen war Onkel Buddy bei der Arbeit immer unzuverlässiger geworden, aber jetzt hielt er sich kaum noch an irgendwelche Absprachen. Er kam spät und ging früh wieder. Wenn er überhaupt noch Backteig anrührte oder knetete, dann halbherzig und träge, und er schnauzte die Kunden an, wenn sie sich nicht gleich entscheiden konnten, was sie wollten. Manchmal saß er einfach nur in der Backstube, rauchte eine seiner Kräuterzigaretten und starrte meinen Vater an, als ob sein hasserfüllter Blick allein dafür sorgen würde, dass mein Dad irgendetwas tat oder sagte. Ich hatte keine Ahnung, was das hätte sein können, aber das spielte auch bald keine Rolle mehr, weil Onkel Buddy irgendwann gar nicht mehr zur Arbeit kam. Stattdessen benutzte er seine Schlüssel, um nach Feierabend in der Backstube, im Lager und im Keller herumzustöbern, Kartons aufzureißen, Mehlsäcke aufzuschlitzen oder Regale umzuwerfen. Als mein Vater am nächsten Tag das Durcheinander entdeckte, schüttelte er den Kopf, räumte alles wieder auf und brummte: »Er wird es nie finden.«
»Was finden?«, fragte ich, während ich ein paar zerbrochene Teller einsammelte.
Mein Vater zuckte die Achseln und antwortete vage: »Wonach er eben sucht.«
»Dad?«
»Ja, mein Schatz?«, antwortete er.
Seine Augen blickten traurig über das Hier und Jetzt hinaus, und das machte mich ein wenig nervös; deswegen verlor ich den Mut, weiter nach Onkel Buddy zu fragen. Dann erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit, und ich sah, dass sich hinter ihm dünne Rauchfäden aus dem Vulcan-Ofen herausringelten. »Da verbrennt etwas!«, rief ich.
»Verdammt! Die melassa biscotti !«, schrie er, ließ den Besen fallen und rannte zum Ofen. Eine Wolke schwarzen Rauchs wälzte sich zur Decke, als er die Klappe öffnete, ein Blech mit verkohlten Keksklumpen herauszog und auf die Arbeitsfläche schleuderte. Der Gestank von verbranntem Zucker zog durch den Raum, und ich musste leicht würgen. Über unseren Köpfen spuckte die Sprinkler-Anlage fauchend abgestandenes Wasser aus. Mein Dad stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch, ließ den Kopf hängen und schlug dann mit einer Faust so hart auf die Platte, dass ich zusammenzuckte. »Es ist alles ruiniert! Alles!«, schrie er in den Gewittersturm hinein, der in der Backstube tobte.
»Es sind doch nur Kekse«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.
»Nein, hier geht es um alles! Alles«, wiederholte er, und dann bewegte er sich so schnell durch den Raum, dass ich erneut zusammenfuhr. Er starrte mich mit einem so intensiven Blick an, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen. »Sara Jane, du bist die Älteste. Du bist intelligent und so …« Er verstummte, dann schürzte er die Lippen und senkte den Kopf. Als er wieder aufsah, waren die nahen Tränen etwas Kaltem gewichen, das tief in der Erde wurzelte. »Niemand kann sich auf ewig seine Unschuld erhalten«, sagte er langsam. »Wenn man überleben will, dann muss die Unschuld der harten Realität weichen. Hör mir nun genau zu, nicht mit unschuldigen Ohren, sondern mit den Ohren einer Erwachsenen. Wenn etwas passieren sollte, dann musst du über unsere Familie Bescheid wissen …«
»Was könnte denn passieren«, sagte ich, und ein Schauer erfasste meinen Körper.
»Alles Mögliche«, antwortete er mit einer Stimme, die ich bei ihm noch nie gehört hatte. Er hatte den Sprung in die harte Realität getan, und nun musste ich ihm folgen. Als ich aufhörte zu zittern (oder es zumindest so gut wie möglich versuchte), fuhr er fort: »Ich muss dir einige
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